nd-aktuell.de / 16.09.2017 / Kultur / Seite 9

Das schwule Gesicht

Wer wir sind, was wir denken, was wir wollen, wen oder was wir begehren, ob wir gewalttätig sind oder eher friedlich - all das war uns schon immer ins Gesicht geschrieben, nur konnten wir bislang mit unseren beschränkten Möglichkeiten beim Anblick eines Gegenübers nie sicher sagen, mit wem wir es zu tun haben. Jedes Urteil war ein Vorurteil, eine Bewertung leicht als Abwertung misszuverstehen.

Doch auch hier wird das menschliche Urteil zusehends durch die Möglichkeiten der digitalen Technik ersetzt. Wissenschaftler der Stanford-Universität haben eine Software entwickelt, die anhand von Porträtfotos die sexuelle Orientierung von Menschen erkennen kann. Die Trefferquote ist hoch - höher jedenfalls als bei menschlichen Testpersonen. Ausgehend von nur einem Foto erkannte das Programm 81 Prozent aller schwulen Männer und 74 Prozent aller homosexuellen Frauen. Menschliche Probanden, denen die gleichen Bilder vorgelegt wurden, kamen hier nur auf 61 und 54 Prozent Trefferquote. Wenn man dem Rechner fünf Bilder einer Person vorlegte, erkannte der Algorithmus 91 Prozent der homosexuellen Männer und 83 Prozent der Frauen.

Die Software benutzte für die Analyse drei Kriterien: Unterschiede im mimischen Ausdruck, modische Präferenzen und Gesichtsproportionen. Letzteres Kriterium ist besonders interessant: Wenn es stimmt, dass man anhand der Nasengröße oder der Form des Kinns die sexuelle Orientierung eines Menschen erkennen kann, dann ist es vielleicht auch möglich, andere Eigenschaften am Gesicht zu erkennen. Der Spruch »dem ist die Gemeinheit (wahlweise auch: «die Blödheit») ins Gesicht geschrieben«, würde damit seines biologistischen Ursprungs entzogen und wäre kein Ressentiment mehr.

Andererseits erodiert mit diesen technischen Möglichkeiten auch die Privatheit des Einzelnen; sie kann sich dem öffentlichen Zugriff und dem sozialen Urteil nicht mehr entziehen. Die Stanford-Wissenschaftler betonen, ihnen sei es bei der Entwicklung des Programms darum gegangen, auf die Gefahren der technischen Entwicklung hinzuweisen; schließlich könnte eine solche Software von Staaten, in denen Homosexualität unter Strafe stehe, missbraucht werden. Damit, so Michal Kosinski, einer der beiden Forscher, die das Gesichtserkennungsprogramm entwickelt haben, hänge die Sicherheit von Homosexuellen und anderen Minderheiten »nicht an Rechten, die uns Privatheit garantieren, sondern an einer konsequenten Durchsetzung von Menschenrechten, an der Toleranz von Gesellschaften und Regierungen«. jam Foto: iStock/Oleshko Artem