nd-aktuell.de / 08.11.2017 / Berlin / Seite 9

Jenseits der Schamgrenze

AntifaschistInnen kritisieren Schändung von Stolpersteinen in Neukölln

Marie Frank

Die Hufeisensiedlung Britz im Norden von Neukölln ist auf den ersten Blick ein ruhiger und beschaulicher Ort. Kirschbäume mit buntem Herbstlaub säumen die Straßen mit den kleinen bunten Häuschen. Nichts in dieser Idylle deutet auf ein massives Neonazi-Problem hin. Und doch wurden hier bereits mehrere Anschläge von Rechtsradikalen verübt. In der Nacht zum vergangenen Montag, nur wenige Tage vor dem Jahrestag der Reichspogromnacht, zu dem es auch in diesem Jahr wieder mehrere Mahnwachen geben wird, wurden hier mehrere sogenannte Stolpersteine gestohlen.

Gerade einmal zehn mal zehn mal zehn Zentimeter sind sie klein – und doch sind sie das größte dezentrale Denkmal für die Opfer des Nationalsozialismus. Vor dem letzten frei gewählten Wohnort von Verfolgten des Nazi-Regimes werden Stolpersteine in den Gehweg eingelassen, um Tag für Tag die Erinnerung wachzuhalten – an die Juden, die Sinti und Roma, die Menschen aus dem Widerstand, Homosexuelle und all die anderen, die zwischen 1933 und 1945 von den Nationalsozialisten verfolgt wurden. Ihre Namen und ihr Schicksal stehen auf einer Messingplatte und machen die NS-Verbrechen im unmittelbaren Alltag der Menschen konkret.

Jürgen Schulte steht fassungslos vor dem Loch im Gehweg, in dem zuvor noch eines dieser Mini-Denkmäler eingelassen war. »Diese Leute haben keine Schamgrenze«, erzählt er den versammelten JournalistInnen. »Ich finde das unausstehlich.« Mit »diesen Leuten« meint Schulte die örtliche Neonazi-Szene, die Neukölln schon seit Jahren terrorisiert. Einige Meter weiter bleibt Schulte vor einem kleinen Haus stehen. »Hier hat es schon vier Brandanschläge gegeben«, berichtet er. Die BewohnerInnen von Britz sind also einiges gewöhnt. Seit Monaten häufen sich dort wieder rechtsextreme Aktivitäten. Diese reichen von eingeworfenen Fensterscheiben an Wohnungen von AntifaschistInnen über auf Hauswände gesprühte Drohungen bis hin zu Brandanschlägen auf Autos und ein kollektiv betriebenes Café.

Dass Stolpersteine gestohlen werden, ist allerdings neu. Am frühen Montagvormittag sei er von einer Anwohnerin wegen eines fehlenden Steins gerufen worden, berichtet Schulte. Daraufhin klapperte der ehemalige Deutschlehrer mit dem Fahrrad die restlichen Gedenkorte ab und stellte fest, dass diese ebenfalls geschändet wurden. Die von ihm alarmierte Polizei ging zunächst von einem einfachen Diebstahl aus. Mittlerweile ermittelt der Staatsschutz. Es werde ein politischer Hintergrund vermutet, sagte ein Polizeisprecher am Dienstag. Eine Spur zu den Steinen gebe es nicht.

Insgesamt wurden in Neukölln mindestens zwölf Steine entwendet, allein sieben davon rund um die Hufeisensiedlung. Die hier verlegten Gedenksteine erinnern alle an Menschen aus der deutschen ArbeiterInnenbewegung, meist KommunistInnen oder AnarchistInnen. »Das sind alles politische Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus gewesen«, sagt Schulte, der auch in der AnwohnerInneninitiative »Hufeisern gegen Rechts« aktiv ist. Die geht deswegen auch von einem »politisch rechtsmotivierten Hintergrund« der Tat aus. Dafür spreche neben dem antifaschistischen Hintergrund der Stolpersteinehrungen vor allem der Zeitpunkt kurz vor dem Gedenktag am 9. November.

Erst im vergangenen Oktober hatte die AfD in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung gefordert, dass das Bezirksamt jegliche Unterstützung für Stolpersteinverlegungen einstellen solle. Auch wenn der Antrag erfolglos war, sei die AfD ein »Stichwortgeber für die Täter aus dem Umfeld der Berliner NPD«, ist die Berliner Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) überzeugt. Dieser Einschätzung schließt sich auch die Initiative Hufeisern gegen Rechts an: »Es ist durchaus denkbar, dass die Neuköllner rechte Szene sich als Vollstreckerin der AfD-Ideen versteht.«