nd-aktuell.de / 17.02.2018 / Wissen / Seite 27

»Herrlich, wie am ersten Tag«

Vor 170 Jahren erschien das Kommunistische Manifest.

Martin Hundt

Der erste Satz des »Manifests der Kommunistischen Partei« ist eine der berühmtesten Metaphern der Weltliteratur: »Ein Gespenst geht um in Europa - das Gespenst des Kommunismus.« Ob dieser allerdings schon auf dem Londoner Kongress des Bundes der Kommunisten vom November/Dezember 1847 verwendet wurde, der die lange Programmdiskussion im Bund abschloss und Karl Marx beauftragte, die Ergebnisse in einem Manifest zu formulieren, ist unbekannt. Im Grunde wissen wir wenig über dies außerordentlich wichtige Ereignis, denn das Parteitagsprotokoll, das vielleicht Friedrich Engels schrieb, ist verloren gegangen.

Tatsache ist aber, dass gewählte Delegierte aus Frankreich, Deutschland, Großbritannien, der Schweiz und Belgien sowie bevollmächtige Londoner Bundesmitglieder für Dänemark, Schweden, die Niederlande, Polen und die USA in London zusammenkamen und ein Statut beschlossen, in dem mehr innerparteiliche Demokratie enthalten war, als in denen sämtlicher »kommunistischen und Arbeiterparteien« des 20. Jahrhunderts. Und ebenso, dass sie nach gründlicher Debatte den Beschluss fassten, ihr Programm in mehreren Sprachen zu veröffentlichen, um dem aufgezwungenen Geheimbundcharakter zu trotzen.

Für ein Gespenst sind 170 Jahre keine Zeit. Und so sollte es nicht verwundern, dass das Gespenst des Kommunismus weiterlebt, nicht nur in Europa, sondern in der ganzen Welt umgeht. Nicht zuletzt, weil gerade dieses »Manifest« von Marx und Engels erstmals die Globalisierung voraussagte. Schon in ihrer Einleitung forderten Marx und Engels allerdings auch, dem Märchen vom Gespenst endlich »ein Manifest der Partei selbst« entgegenzustellen. Also statt Gespenstern, Unklarheiten und Verleumdungen nun endlich unvoreingenommene, wissenschaftlich begründete historische und ökonomische Analysen, eindeutige Festlegungen über die politische Taktik und die Ziele der Partei.

Natürlich trägt das »Manifest« von der ersten bis zur letzten Zeile Marx’ Handschrift. Es ist ein literarisches Werk von hohem Rang und ist zu Recht in das UNESCO-Register »Memory of the World« aufgenommen worden. Zugleich aber war es eindeutig ein Parteiauftrag, das Ergebnis einer langen, komplizierten Diskussion, in der auch Engels eine große Rolle spielte, was er im Alter selbst etwas vergessen hatte. Von ihm stammten solche Vorarbeiten wie der »Entwurf eines kommunistischen Glaubensbekenntnisses« (erst 1970 wieder aufgefunden) und die »Grundsätze des Kommunismus« (Erstveröffentlichung 1914). Und von ihm kam auch zuerst der Vorschlag, die bisherige Katechismusform wegzulassen und das Parteiprogramm »Manifest« zu nennen.

Viele einzelne Feststellungen und Forderungen des »Manifests« sind historisch überholt, aber der revolutionäre Grundgestus, das unerhörte Geschichtsverständnis, die wissenschaftliche Herangehensweise sind »herrlich, wie am ersten Tag« (Goethe, »Faust«). Ich kannte manchen Parteiveteranen, der es sich zur festen Regel gemacht hatte, jährlich einmal wieder das »Manifest« zu lesen, alle beteuerten, jedes Mal etwas Neues darin gefunden zu haben.

In seinem letzten Lebensjahr wurde Engels vom italienischen Sozialisten Giuseppe Canepa gefragt, wie man kurz die Grundidee der künftigen sozialistischen Epoche ausdrücken könne, in der nicht mehr, wie Dante schrieb, die einen herrschen und die anderen leiden. Engels antwortete mit einem Satz aus dem »Manifests«: »An die Stelle der alten bürgerlichen Gesellschaft mit ihren Klassen und Klassengegensätzen tritt eine Assoziation, worin die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist.« Also Entfaltung der Individuen als Bedingung (!), als unerlässliche Voraussetzung aller gesellschaftlichen Entwicklung, der Bildung von Kollektiven und Gemeinschaften jeder Art. Das knüpfte an den Humanismus der Klassik an; Goethe schrieb: »Höchstes Glück der Erdenkinder ist doch die Persönlichkeit.«

Die freie Entwicklung eines jeden, das heißt Individualität als oberstes Ziel, war sowohl 1847/48 als auch 1894, wünschenswert deutlich formuliert, die höchste Forderung der frühen Vorkämpfer einer klassenlosen Gesellschaft. Das ist im 20. Jahrhundert leider oft anders, in einem falschen kollektivistischen Sinne gelesen worden. Sich heute des »Manifests« und des Kongresses zu erinnern, der es in Auftrag gab, sollte in erster Linie bedeuten, diesen Grundgedanken richtig zu verstehen.

Die Grundforderung des »Manifests« wurde dem Londoner Kongress von Marx nicht etwa oktroyiert, sie war unter den Bundesmitgliedern lange herangereift. Schon im Juni 1845 sagte in einer Diskussion im Londoner Kommunistischen Arbeiterbildungsverein Karl Schapper, Präsident des Kongresses von Ende 1847: »Wir sind Vorkämpfer für die Freiheit des Individuums, wie unsre Vorväter es für die Religionsfreiheit waren ...« Das war eine deutliche Bezugnahme auf die Reformation, in der Luther von der »Freiheit eines Christenmenschen« sprach, in der »Gewissensfreiheit« ein zentraler Begriff war.

Ironie der Geschichte: Das »Manifest« sollte eigentlich nur für ein Jahr gelten, denn laut Statut musste jeder jährliche Kongress ein neues, aktualisiertes Programm erlassen. Dazu ist es nicht gekommen, dem Bund war bis zu seiner Auflösung 1852 kein weiterer Kongress mehr vergönnt. Aber sein bestes Erbe ist und bleibt unzweifelhaft das »Manifest«.

Prof. Dr. Martin Hundt, Jg. 1932, jahrzehntelang Mitarbeiter an der Marx-Engels-Gesamtausgabe (MEGA), war 1990 Mitbegründer der Internationalen Marx-Engels-Stiftung (IMES) in Amsterdam.