nd-aktuell.de / 06.01.2021 / Sport / Seite 16

Volksheld aus Zakopane

Kamil Stoch und Polens Skispringer dominieren nach dem Corona-Schreck die 69. Vierschanzentournee

Lars Becker, Bischofshofen

Kurz vor Beginn dieser 69. Vierschanzentournee postete Kamil Stoch ein Bild von den Heiligen Drei Königen und dem Stern von Bethlehem. »Es ist die Zeit der Wunder. Alles kann passieren«, schrieb er dazu. Zu diesem Zeitpunkt hatte das wegen des vermeintlich positiven Coronafalls von Klemens Muranka komplett in Quarantäne versetzte polnische Skisprungteam gerade in letzter Minute doch noch die Startberechtigung für den Tourneeauftakt in Oberstdorf erhalten. Gut eine Woche nach diesem Wechselbad der Gefühle steht Kamil Stoch beim Finalspringen in Bischofshofen am Mittwoch (16.30 Uhr/live im ZDF und bei Eurosport) vor seinem dritten Tournee-Gesamtsieg nach 2017 und 2018.

Der Volksheld aus Zakopane ist also einer, der poetischen Worten eindrucksvolle Taten folgen lässt. »Kamil ist ein 100-prozentiger Profi, der alles dem Sport unterordnet. Er fordert sich selbst brutal und ärgert sich extrem, wenn er nicht gewinnt«, zeichnet der deutsche Bundestrainer Stefan Horngacher ein Psychogramm des Überfliegers. Er hat Stoch drei Jahre lang in seiner Zeit als polnischer Cheftrainer betreut und schwärmt von Stochs »außergewöhnlichen Fähigkeiten: Kamils Körper ist zu 100 Prozent fürs Skispringen gebaut. Er beherrscht alle Elemente vom Absprung über den Flug bis zur Landung. Er ist der perfekte Skispringer.«

Das hat Stoch spätestens 2017/2018 bei der Vierschanzentournee bewiesen, als er alle vier Springen gewinnen konnte. Stoch hat aber auch drei Einzel-Olympiasiege sowie je zwei WM-Titel und Gesamtweltcup-Triumphe auf seinem Erfolgskonto stehen. In Polen wird der Social-Media-Millionär deshalb ehrfürchtig »König Kamil« genannt und steht in der Popularitätsskala auf einer Stufe mit Weltfußballer Robert Lewandowski.

Überhaupt ist die Bedeutung des Skispringens in Polen gewaltig: Als die vergangene Saison wegen der beginnenden Corona-Pandemie abgebrochen wurde und keine Flüge mehr buchbar waren, wurden Stoch und Co. aus Norwegen mit einem Regierungsflieger heimgeholt. Den Last-Minute-Start bei dieser Vierschanzentournee hatten die Springer aus Polen ebenfalls ihren besten Beziehungen zur ganz großen Politik zu verdanken. Nach der Corona-Sperre in Oberstdorf machte selbst Regierungschef Mateusz Morawiecki Druck: »Für uns Polen beginnt der Winter mit dem Skispringen. Man darf diese schreiende Ungerechtigkeit nicht zulassen.« So durfte sich das polnische Team entgegen aller Hygienepläne freitesten. Und Stoch dankte danach immer wieder »allen Polen, die für uns gekämpft und uns diese Möglichkeiten eröffnet haben«.

Die polnische Mannschaft, die mittlerweile der tschechische Cheftrainer Michal Dolezal leitet, rückte noch enger zusammen und dominierte nach dem zweiten Platz von Stoch die Vierschanzentournee. In Garmisch-Partenkirchen und Innsbruck besetzte das Team jeweils drei der ersten vier Plätze. Auch das Duell um den Tournee-Gesamtsieg ist eine rein polnische Angelegenheit: Innsbruck-Triumphator Stoch geht mit einem Vorsprung von 15,2 Punkten vor Neujahrs-Sieger und Titelverteidiger Dawid Kubacki ins Finale in Bischofshofen. Unter den Top Ten nach drei Springen finden sich insgesamt vier Polen. »Sie haben eine tolle Mannschaft, und aus dieser Breite entstehen von tollen Sportlern wie Stoch oder Kubacki dann Spitzenleistungen«, sagt Horngacher.

Er hat mit seinem Knowhow bei der Arbeit in Polen selbst dafür die Grundlage gelegt. Jetzt versucht der Österreicher, die deutschen Flieger weiterzuentwickeln. Sein Musterschüler ist dabei Karl Geiger, der im Dezember überraschend Skiflugweltmeister wurde. »Karl kann man mit Kubacki vergleichen. In Karl steckt noch viel mehr drin, es braucht halt in manchen Situationen noch Geduld«, sagt Horngacher. So wie bei der Tournee: Oberstdorf-Sieger Geiger büßte mit seinem 16. Platz von Innsbruck wohl alle Chancen auf den ersten deutschen Gesamtsieg seit 19 Jahren ein.

24,7 Punkte Rückstand - das sind umgerechnet fast 14 Meter - auf den unheimlich konstanten Stoch dürften zu viel sein. Im Gesamtergebnis stehen Geiger und Markus Eisenbichler hinter den beiden Polen sowie dem Norweger Halvor Egner Granerud auf Platz vier und fünf, möchten aber beide wenigstens den Sprung aufs Podest schaffen. Dann würden sie dort zumindest neben »Wundermann« Kamil Stoch stehen.