nd-aktuell.de / 21.08.2021 / Kultur / Seite 40

Nach dem Krieg

sang Mama
im Kinotheater »Forum«
neben dem Buffet,
wo die Sieger über Hitler standen und Bier tranken
und Mädchen umarmten, die Frisuren hatten wie die junge
Deanna Durbin,
und sie hörten nicht auf die Stimme
der mageren unscheinbaren Sängerin
und ahnten nicht einmal,
dass auch sie
eine Siegerin war.

Biopolitik

Ich bin ein schlapper nichtrevolutionärer Angehöriger
der Intelligenzija, weil Stalin
meinen Großvater, den Revolutionär, 1938 erschoss.
Papa wuchs ohne dessen Einfluss auf und die revolutionäre
Tradition
riss damit ab.
Großvater selbst war ein Schwuler, der sich sozusagen
»naturalisiert« hatte
nach dem Stalin-Dekret
über das Verbot der Homosexualität im Jahr 1934.
Großmutter lebte relativ frei bis zum Verbot der Abtreibung 1936.
1937 heirateten sie.

Hätte es diese Gesetze nicht gegeben
dann hätte es natürlich auch Papa und mich nicht gegeben;
daran denke ich jedes Mal, wenn ich beginne
die Figur Stalins gebührend zu schmähen,
das Ausmaß der Repressionen aufbausche, womit ich auch jetzt
beginne.

nothin’ personal

»Eine beschissene Demo!« - telegraphiert sie mir,
»die Anarchos kloppen sich schon mit der Polizei«.
»Für dich ist das wohl nur so ein wildes Spektakel«, -
antworte ich.
Ich denke daran, wie viele Jungen und Mädchen
sich streiten müssen über politische und andere Fragen
und sich anpissen so wie heute die Anarchos und die Polizei,
damit der allrussische Streik obsiege gegen
die Maßnahmen der strengen Ökonomie.
Nichts Persönliches! Nur Klassenkampf.

Als uns ein OMON-Trupp entgegenstürmte und alle in Panik
gerieten,
aber schon nicht aus philosophischer, sondern aus irdischer
menschlicher Schwache,
da erinnerte ich mich begeistert an die Idee aus einem
anarchistischen Manifest,
dass über den Pazifismus wohl nur der sich Gedanken machen kann,
der Waffen besitzt,
wenn wir jetzt Waffen hatten, dachte ich, dann konnten wir tolle
Betrachtungen anstellen über den Pazifismus,
und da, auf dem Gipfel unserer Schwäche, gab es plötzlich Waffen:
Unsere Reihen teilten sich und mitten aus dem Dickicht der
pazifistischen Studenten,
verlorenen Intellektuellen und örtlichen Pensionäre
ballerte ein Maschinengewehr.
Die OMON-Leute fielen um wie die gefällten Baume des Wald
von Chimki.
Hauptsache es gibt nun aber keine Revolution -
sagte Schenja Tschirikowa,
als wir vor dem Leichenhaufen standen und uns klar zu werden
versuchten,
was nun weiter zu tun war.

Wahrend der Oktoberrevolution wurden weniger Menschen
umgebracht als heute, sagte ich.
Aber wie viele dafür später, im Bürgerkrieg,
sagte Michail, der Waldschrat.
Weil Armee und Polizei nicht auf die Seite des Volks überliefen,
sagte jemand anders, dann gossen wir uns etwas Wodka ein,
wir tranken alle darauf, dass diesmal Polizei und Armee
auf die Seite des Volks überlaufen,
das heißt auf unsere Seite,
und im selben Moment sahen wir, wie über die Chaussee
in Gestalt von OMON-Kämpfern
in der Tarnfarbe Frisches Waldgrün
Verstärkung kam.

Kirill Medwedew
Antifaschismus für alle. Essays, Gedichte, Manifeste[1]
Aus dem Russischen von Matthias Meindl und Georg Witte
Matthes & Seitz
313 S., kt., 20,00 €

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