nd-aktuell.de / 05.05.2022 / Kultur / Seite 1

Ärgerlich unwitzig

Regisseur Majid Majidi wollte mit »Sun Children« einen unterhaltsamen und fröhlichen Film machen. Doch das Ergebnis ist pathetisch und humorfrei.

Felix Bartels
Vier Straßenkinder auf der Suche nach einem verborgenen Schatz unter der »Sun School«, einer gemeinnützigen Schule
Vier Straßenkinder auf der Suche nach einem verborgenen Schatz unter der »Sun School«, einer gemeinnützigen Schule

Tyche und Eudaimonia – was die Griechen in zwei Worte schieden, fällt bei den Deutschen in dem einen zusammen: Glück – womit gleichermaßen das Zufallsglück wie das gute Leben gemeint sein kann. Dass das eine dem anderen nicht unbedingt folgen muss, davon handeln viele Erzählungen und Filme, in denen der Held sein Glück machen will, es dann aber – natürlich – ganz anders kommt. Von dieser Art ist auch »Sun Children«, den der iranische Autorenfilmer [1]Majid Majidi 2020 in die Welt gesetzt hat.

Ali ist gerade zwölf Jahre alt und bereits ein routinierter Krimineller. Eine Schule besucht er nicht, und neben Diebstahl, Betrug und dergleichen verdient er sein Geld mit – auch nicht ganz legaler – Arbeit in einer Autowerkstatt. Als er einem älteren Gangster in die Quere kommt, beauftragt dieser Ali, einen Schatz auszuheben. Da der Schatz sich in den Katakomben der Sun School befindet, meldet Ali sich und drei Freunde bei dieser Schule an, damit sie auf dem Gelände ihr Bergungswerk erledigen können. Nur gestaltet sich das alles nicht so einfach, wie es geplant wurde.

Ein Gauner infiltriert eine Einrichtung, um dort seinen Coup durchzubringen. Dabei muss er sich auf den Zweck oder den Charakter dieser Einrichtung einlassen. Der Einfall ist nicht neu, man kennt ihn aus »Ladykillers« (1955), »Henry’s Crime« (2010) oder »Fuck ju Göte« (2013). Was ja überhaupt nicht gegen eine weitere Variante spricht – entscheidend bei Adaptionen ist die Bewältigung der Vorlage. Wer es nicht besser oder wenigstens ähnlich gut kann, sollte sich etwas anderes suchen. Gerade hier lässt sich wenig zugunsten von »Sun Children« vorbringen.
Gewiss reißt der Film Themen an, die Bedeutung haben. Alis doppelte Tätigkeit in der Werkstatt und als Krimineller weist darauf hin, dass die von Erwachsenen organisierte Kinderkriminalität eine andere Form der Kinderarbeit ist und in armen Weltgegenden das eine in dem andern verschwindet. Das Motiv der Schatzsuche verdeutlicht, vor allem mit Rücksicht auf den Ausgang der Story, dass für den Glücksritter der Zufall des Funds an die Stelle des Zufalls der Geburt tritt – der Traum also vom Gewinn ohne Arbeit, die in Anbetracht der Klassenprivilegien als vergeblich empfunden wird.

Alis Besuch der Schule, eigentlich Mittel, um an den Schatz zu kommen, könnte zum eigentlichen Zweck werden. Entsprechend äußert Majid Majidi über seinen Film: »Der wahre Schatz sind meiner Meinung nach diese Kinder und ihr Potenzial. Bildung ist ihr unveräußerliches Recht, und sie ist der Schlüssel zu ihrer Zukunft.« Allerdings wird gerade das nicht gezeigt. Der Held geht inkognito zur Schule, und die Handlung hätte ihn nach dramaturgischer Logik mehr und mehr in diesem Betrieb aufgehen lassen können. Er müsste dort Freunde finden, lernen, wachsen und reifen, bis er die Schule selbst als Schatz empfindet und ein Konflikt zwischen dem neu gewonnenen Schulleben und der Schatzsuche entsteht. Mag ja sein, dass es so gemeint war, zu sehen ist es nicht.

Und so schlecht ausgeführt der Inhalt, so lückenhaft zeigt sich der Plot. Der Schatz wird dramaturgisch nicht etabliert. Die Exposition ist zu schnell. Ali und seine Freunde schreien so lange auf dem Schulhof herum, bis man sie aufnimmt, was sich weder aus der Handlung noch aus einer figürlich vermittelten Erklärung ergibt. In einer Szene kann man das Hämmern an den Kellerwänden im ganzen Schulhaus hören, später scheinen die Klopfgeräusche kein Problem mehr zu sein. Der Auftraggeber verschwindet nach dem ersten Drittel aus dem Film, wodurch eine der wenigen Möglichkeiten, dramatische Spannung zu erzeugen, preisgegeben wird. Am Schluss steht erwartbar, dass der Schatz nicht ganz das ist, was die Suchenden erwartet haben, woraus eine Reaktion folgt, die zwar nachvollzogen, aus dem bisherigen Verhalten der Hauptfigur aber nicht erklärt werden kann.

Überdies verdrießt ebendiese, die überaus unsympathische Hauptfigur. Von Rouhollah Zamani blass und langweilig gespielt, missfällt Ali nicht allein wegen seiner miesen Eigenschaften, von denen er unerfreulich viele hat – er belügt Menschen, die ihm wohlwollen, ohne dass es ihn zu kümmern scheint; schlägt seine Freunde, wenn sie nicht tun, was er will; versucht Reza daran zu hindern, aus seinem Talent im Fußball etwas zu machen, und Abofazl daran, aus seinem Talent in Mathematik, weil er in ihnen nur Hilfsarbeiter bei der Schatzsuche sieht. Da sind, so sehr man auch sucht, keine sympathischen Züge an diesem Jungen, die aus einem miesen Charakter wenigstens einen ambivalenten machen könnten. In seinen günstigsten Momenten ist er einfach egal.

Und gewissermaßen verkörpert er damit die gesamte Geschichte, die um ihn herum geschrieben wurde. Wie seltsam sich das anhört, wenn der Autor Majidi sagt: »Ich wollte einen unterhaltsamen, energiegeladenen, fröhlichen Film voller Abenteuer und Mut machen.« Denn »Sun Children« ist in seiner pathetischen Humorfreiheit[2] und seinem nervtötenden Dauergeschrei genau das nicht. Was allein ihn etwas rettet, scheint die exzellente Arbeit der Kamera, die handwerklich dem Charakter jeder Sequenz angepasst wurde. Seien es die Intensität und der perspektivische Wechsel einer Verfolgung, das Gedränge in der U‑Bahn, der steile Shot aus einem Kellerloch oder die Choreografie von vier Kindern, die in einem öffentlichen Brunnen baden.
Von einzigartiger Schönheit ist eine Szene, in der die gesamte Schülerschaft die hohe Mauer der vom Vermieter zugesperrten Schule überwindet. Als Bild dafür, dass Kinder von sich aus lernen wollen. Nach geduldiger Suspense, die die Masse wütender werdend und beim beschwerlichen Erklettern der Mauer zeigt, springen die Kinder nacheinander von oben herab. Die Kamera filmt nur die Füße, die wie Tropfen auf den Boden fallen. In diesem Moment verrät der Film, was er hätte werden können.

»Sun Children« (»Khorshid«): Iran 2020. Regie: Majid Majidi; Drehbuch: Majid Majidi, Nima Javidi. Mit: Rouhollah Zamani, Ali Nasirian, Javad Ezzati. 99 Minuten. Jetzt im Kino.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162884.asghar-farhadi-im-ausland-hilft-mir-eher-mein-kopf-im-iran-hingegen-mein-herz.html?sstr=Farhadi
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1036383.der-neue-mensch-hat-nichts-zu-lachen.html?sstr=Humorfreiheit