nd-aktuell.de / 08.05.2022 / Berlin / Seite 1

Albaner im KZ Ravensbrück

Erinnerungen einer Partisanin in deutscher Übersetzung erschienen

Andreas Fritsche
Albanischer Gedenkraum der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück mit einem Foto von Liria Xhunga (r.)
Albanischer Gedenkraum der KZ-Gedenkstätte Ravensbrück mit einem Foto von Liria Xhunga (r.)

Der Tag der Befreiung, das war für die albanische Partisanin Liria Xhunga der 5. Mai 1945. So steht es in ihren Erinnerungen. Da schildert sie, die SS habe KZ-Häftlinge auf dem Todesmarsch bei Putlitz in Brandenburg in eine Hütte gesperrt, diese angezündet und mit Maschinengewehren hineingeschossen. So seien einige Frauen noch kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ermordet worden. Die anderen warteten auf ihr Ende. Doch die Maschinengewehre verstummten, ein sowjetischer Soldat habe die Tür geöffnet und gesagt: »Kommt heraus, denn die Deutschen sind fort!«

Wahrscheinlich irrte sich Xhunga im Datum. Putzlitz wurde bereits zwei Tage früher von den sowjetischen Truppen erreicht. Für die Szene, wie sich die Rettung der KZ-Häftlinge abgespielt habe, gibt es sonst keinen Beleg. Eine andere Zeitzeugin erwähnt so etwas mit keinem Wort. Bei den Erinnerungen von Liria Xhunga gibt es noch einige kleinere Ungereimtheiten. Vielleicht besann sie sich bei der Niederschrift ihrer Erinnerungen in den 1970er Jahren nicht mehr genau auf alle Details, zumal sie 1954 an Multipler Sklerose erkrankt und die letzten 24 Jahre vor ihrem Tod 1994 gelähmt war. Ihr Mann Miro, der sie pflegte, hatte die Notizen gemacht und die Erinnerungen seiner Frau auch noch stark überarbeitet, bevor sie 1999 bei einem kleinen albanischen Verlag erschienen.

Nun hat Cord Pagenstecher das Manuskript »Das Mädchen mit der Nummer 67 203« ins Deutsche übersetzt, mit einer ausführlichen Einleitung und vielen Fußnoten versehen und im Berliner Metropol-Verlag herausgegeben. Bei den Lesern entschuldigt sich Pagenstecher quasi für die ganz speziellen ideologischen Phrasen, die nicht verwundern dürfen im abgeschotteten Albanien der 1970er Jahre, das sich innerhalb des Lagers der sozialistischen Staaten isoliert hatte. Aber wenn Pagenstecher verspricht, dass dieses Buch dennoch sehr persönliche Passagen enthält, dann ist das noch sehr untertrieben. Denn die sicher traumatischen Erlebnisse des Mädchens dürften niemanden kalt lassen. Geboren 1927 im südalbanischen Hotova als Tochter des revolutionär gestimmten Dorflehrers, schließt sich Liria 1944 den kommunistischen Partisanen an, die gegen die deutschen Besatzer kämpfen. Doch schon nach 30 Tagen und drei Gefechten gerät die gerade einmal 16-Jährige in Gefangenschaft und landet nach mehreren Stationen in einem Gefängnis im griechischen Thessaloniki, wo sie die Hinrichtung von drei Albanerinnen und vielen Griechen erlebt. Nach jeder Aktion griechischer Partisanen werden Gefangene aus den Zellen geholt und ermordet. Schließlich wird Liria nach Deutschland deportiert und ins Frauen-KZ Ravensbrück[1] gesteckt.

Im Oktober 1944 soll sie dort am Bahnhof mit 20 Leidensgenossinen einen Waggon mit Kohle schieben. Der Waggon ist zu schwer und lässt sich bei aller Anstrengung nicht von der Stelle bewegen. Eine Aufseherin schlägt mit der Peitsche zu und stößt Liria zu Boden. Diese verletzt sich am Knie. Ihr Blut vermischt sich mit dem Kohlestaub. Liria erzählt, sie habe davon für ihr ganzes Leben schwarze Narben zurückbehalten. Von Ravensbrück wird die Partisanin in ein Außenlager in Berlin-Köpenick überstellt, muss im Kabelwerk Oberspree schuften und passiert schließlich 1945 auf dem Todesmarsch auch noch das Konzentrationslager Sachsenhausen. Dass sie auf dem Marsch nicht erschöpft zusammenbricht und von der SS erschossen wird wie so viele andere, hat sie auch den Frauen zu verdanken, die sie in die Mitte nehmen und stützen.

Von der Befreiung bis zur endlichen Rückkehr nach Albanien dauert es dann noch 212 Tage. Eindrücklich beschrieben sind die Szenen der Ankunft. Die Familie von Liria hatte keine Nachricht vom Schicksal der Tochter und glaubte, sie sei tot. Einige griechische Widerstandskämpferinnen steigen bei der Heimkehr mit den Albanerinnen vor der Grenze zu Griechenland nachts aus dem Zug und laufen zu Fuß in ihre Heimat, damit sie bei der Grenzkontrolle nicht abgefangen werden. Sie sind Kommunistinnen und in Griechenland herrscht nach der Vertreibung der Faschisten noch kein Frieden. Dort ist ein blutiger Bürgerkrieg ausgebrochen.

In Albanien dagegen habe das Volk die Macht übernommen, die Wünsche der Partisanninen hätten sich erfüllt, so schreibt es eine der griechischen Gefährtinnen rückblickend in einem erschütternden Brief an die schwerkranke Liria. Der Griechin ist es 1987 gelungen, Liria zu besuchen und sie schreibt ihr danach. Der Brief ist im Buch abgedruckt. Erstmals seit 1945 konnten sich die beiden Kommunistinnen 1987 wiedersehen. Doch eine Insel der Glückseligkeit ist Albanien ganz gewiss nicht geworden, von der Armut einmal abgesehen, denn die bitterste Not konnte immerhin gelindert werden. Doch Albanien hat auf der Welt praktisch keine Freunde und geht seinen schweren Weg ganz allein. Eine der Partisaninnen heiratet einen Kampfgefährten, der zum Außenminister Albaniens aufsteigt, aber 1981 abgelöst und später verhaftet wird. Seine Frau begeht Selbstmord. Ihr wurde vorgeworfen, Spionin des jugoslawischen Geheimdienstes gewesen zu sein.

Nachweislich hat es unter den 140 000 Häftlingen des Konzentrationslagers Ravensbrück acht Frauen und acht Männer aus Albanien gegeben. Nur die Frauen erlebten alle ihre Befreiung. In der Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück steht an der Mauer der nach dem Alphabet sortierten Nationen zuerst Albanien und im ehemaligen Zellenbau ist ein 1989 eingerichteter Gedenkraum zu besichtigen[2], in dem ein Foto von Liria Xhunga hängt.

Liria und Miro Xhunga: Das Mädchen mit der Nummer 67 203, Metropol, 170 Seiten, 16 Euro

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163380.befreiung-vom-faschismus-franzoesinnen-in-ravensbrueck.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/121683.gedenkraeume-des-zellenbaus.html