nd-aktuell.de / 11.05.2022 / Kultur / Seite 1

Spektakel für Eingeweihte

Ewelina Marciniaks Inszenierung von »Die Jungfrau von Orleans« gastiert beim Berliner Theatertreffen

Michael Wolf
Eine feministische Selbstbefragung? "Die Jungfrau von Orleans", eingeladen zum Berliner Theatertreffen
Eine feministische Selbstbefragung? "Die Jungfrau von Orleans", eingeladen zum Berliner Theatertreffen

Die Pandemie fordert dem Theaterbetrieb fortwährend schwierige Entscheidungen ab. Was tun, wenn kurz vor der Premiere ein Ensemblemitglied positiv getestet wird, also ausfällt? Sollte man die Aufführung absagen? Die Rolle hastig umbesetzen? Das Nationaltheater Mannheim wählte für sein gefährdetes Gastspiel beim Berliner Theatertreffen eine »hybride Lösung«. 90 Minuten bekam das Publikum bei freiem Eintritt eine Aufzeichnung zu sehen, danach – der erkrankte Spieler hatte nun keinen Auftritt mehr – spielte das Ensemble noch eine halbe Stunde auf der Bühne.

Zu sehen gab es Friedrich Schillers »Die Jungfrau von Orleans«, die aber kaum wiederzukennen war, was nichts mit der Aufzeichnung zu tun hat, sondern damit, dass Regisseurin Ewelina Marciniak und Dramaturgin Joanna Bednarczyk eine Fassung geschrieben haben, die von Schiller demonstrativ Abstand nimmt, um die Hauptfigur wiederum in nächste Nähe zu rücken, sie abzutasten auf all das, was sie sein könnte, müsste sie nicht über Jahrhunderte als Projektionsfläche für männliche Begierden herhalten.

In der ersten Szene zählt Johannas Vater all die Gefahren auf, die einer unverheirateten und also schutzlosen jungen Frau widerfahren können, steigert sich in Visionen hinein, wie sich die Tochter »mit hochgezogenem Rock dem erstbesten Landstreicher hingibt«, wobei es der im Splitscreen gezeigten Lolita-Szene nicht bedurft hätte, in der Johanna immer wieder die Hand des Vaters in ihren Schoß zieht, um zu verstehen, was die Tochter bald darauf klarstellt: »Papa, das war dein Traum. Der handelt von dir, nicht von mir.«

Die Hauptrolle ist also eine Leerstelle, sie ist immer das, was Männer in ihr erkennen, und es sind hier die bekannten Rollen zwischen den Extremen Hure und Heilige. Annemarie Brüntjen probiert sie an wie Kleider, versucht sich mal als kühle Strategin, Unschuld vom Lande, rachsüchtige Amazone oder leidenschaftliche Liebhaberin. Ganz passen wollen diese Versuche nicht, weshalb Brüntjen dem Hohn eines Schauspielerkollegen ganz zu Recht mit offensiver Ratlosigkeit begegnet: Sie wisse ja selbst nicht, wie es geht, sie suche aber wenigstens noch etwas! Diese Suche nach der richtigen Johanna bezieht sich immer auch auf die Suche nach ihrer richtigen Darstellung, die Inszenierung ist beides zugleich: Kunst im bürgerlichen Sinne als Instrument politischer Selbstvergewisserung und ein sich selbst reflektierendes Medium.

Man muss sich also beim Theatertreffen wieder mal – typisch Branchentreff! – sehr für Theater interessieren, um auch dieses konkrete Theater da auf der Bühne interessant zu finden. Für alle Nichteingeweihten lösen Brüntjen und ihre ältere Kollegin Ragna Pitoll (in der Rolle einer älteren Kollegin) die Gender Troubles am Schluss zumindest in schwesterlichem Wohlgefallen auf. Da planschen sie in einem Wasserbecken, und Pitoll gibt ein wenig nach Kalenderblatt klingende Ratschläge: »Du denkst vielleicht, du änderst nur dich, aber das stimmt nicht. Du änderst alles mit dem Wandel in dir.«

Johanna von Orleans als Emanzipationsgeschichte also, als Verkörperung des weiblichen Schicksals schlechthin. Aber passt das? Ohne ihre eigene Vision von sich als Gesandte der Gottesmutter wäre sie wohl niemals handlungsfähig geworden, hätte sie niemals ihren Platz in der Geschichte erhalten. Die Selbstermächtigung dieser Johanna ging also gerade damit einher, dass sie sich dafür entschied, eine Projektion zu sein, eine Projektion der Krieger, die sie in die Schlacht trieb, und des Königs, der durch ihren Glauben an sie mit der Krone belohnt wurde.

Sie ist, postmodern gesprochen, schon immer ganz Zeichen, ohne dass dieses Zeichen auf etwas verwiese, das nicht auch schon ein Zeichen ist. Andere feministische Künstlerinnen wie die im vorletzten Jahr zum Theatertreffen eingeladene Florentina Holzinger hätten Johanna vielleicht performativ zu retten versucht, hätten mit drastischen Mitteln (Kot, Urin, Blut) auf ihre Körperlichkeit gepocht. Marciniak ist hier vergleichsweise bescheiden; sie beschränkt sich darauf, den Fluch der Frau aufzuzeigen, der darin besteht, ein vom Signifikat getrennter Signifikant zu sein, kein Anrecht auf eine feste Gestalt zu haben, die nicht nur für etwas steht, sondern jemand ist.

Einzig in der von Pitoll beschworenen Veränderung könnte ein Stück Befreiung stecken, eine »Veränderung«, die hier ganz konkret auf der Bühne zu beobachten ist: weg von Schillers zwischen Liebe und Heiligkeit schwankender Heldin, hin zu einer Frau, die um die eigene Erzählbarkeit ringt.