nd-aktuell.de / 11.05.2022 / Kultur / Seite 1

Ich erzähle mir einen Künstler

Das Leben des revolutionären Malers Heinrich Vogeler wird in einem Film von Marie Noëlle zum Psychodrama

Stefan Ripplinger
Der Maler Heinrich Vogeler war, noch bevor er Kommunist wurde, Feminist.
Der Maler Heinrich Vogeler war, noch bevor er Kommunist wurde, Feminist.

Das könnte instinktlos, wenn nicht Hochverrat sein: Der Film »Heinrich Vogeler« erzählt die Geschichte eines Malers, der freiwillig in die Sowjetunion ging. Darf so etwas derzeit gezeigt werden? Ist der ukrainische Botschafter informiert? Muss sich der Bundespräsident entschuldigen?

Allerdings ist der Regisseurin, Marie Noëlle, zuzugestehen, dass sie alles unternommen hat, um die an sich hochpolitische Geschichte zu einem Psychodrama herunterzukochen. Sie hat sogar eine Schweizer Psychoanalytikerin engagiert, die prompt beim Maler einen Mutterkomplex feststellt.

Heinrich Vogeler (1872–1942) berichtet seine Geschichte in seiner zwar fragmentarischen, aber umfangreichen Autobiografie (»Werden«), die Erich Weinert 1952 herausgab: Von der akademischen Malerei abgestoßen, lässt sich Vogeler 1894 in der gerade entstehenden Künstlerkolonie Worpswede nieder. Das Erbe seines Vaters, eines Eisengroßhändlers, erlaubt ihm den Erwerb und Umbau eines Hauses, des Barkenhoffs. In dieser Zeit erhält er Besuch von einem alten Bekannten, dem Schriftsteller Rudolf Alexander Schröder.

Schröder eröffnet ihm, dass sein steinreicher Cousin eine Zeitschrift aufmache. Es werde noch ein Grafiker gesucht. Vogeler lässt alles stehen und liegen, reist nach München und wird zum Gestalter der »Insel«. In München lernt der anfangs von manchen belächelte Vogeler die Crème de la Crème von Literatur und Hochadel kennen, in Florenz kurz darauf auch den Dichter Rainer Maria Rilke[1]. Als Vogeler nach Worpswede zurückkehrt, um sich der Malerei zuzuwenden, ist er dank seiner meisterhaften Jugendstil-Gestaltungen ein gemachter Mann.

Noëlle zieht es vor, diese Vorgeschichte – der Künstler als Zahnrad in einer ästhetischen Industrie – wegzulassen. In ihrem Film, halb biografische Erzählung, halb Dokumentation, stolpert eines Tages ein tölpelhafter Rilke (Johann von Bülow) ins Malerparadies des Vogeler (Florian Lukas) und fordert ihn auf, mit ihm nach Paris zu kommen, um den Bildhauer Auguste Rodin (Samuel Finzi) und die echte Kunst kennenzulernen.

Wenn Rilke hier eine Karikatur ist, so ist Rodin erst recht eine. Er wirkt wie ein Waldschrat, wenn er an Blumen schnuppert und ausruft: »In der Natur ist selbst das Hässliche schön!« Hat Rodin etwas derart Törichtes gesagt? Wohl nicht. Nachweislich sagte er: »Für den Künstler, der diesen Titel zu Recht führt, ist alles schön in der Natur, weil seine Augen, die kühn alle äußere Wahrheit begrüßen, in ihr mühelos wie in einem offenen Buch alle innere Wahrheit lesen.« (Unterhaltungen mit Paul Gsell, 1911)

Noëlle lässt Vogeler und Rodin in Fin-de-Siècle-Kostümen mit einer Künstlerin von heute, Sophie Sainrapt, zusammentreffen, die gerade, ganz von Sinnlichkeit erfüllt, einen weiblichen Akt malt und feststellt, zu Vogelers Zeiten hätten nur Männer nackte Frauen darstellen dürfen. Das stimmt im Großen und Ganzen, doch fällt auf, wie ausführlich Vogeler selbst darüber schreibt, dass Paula Modersohn-Becker und Clara Westhoff (die spätere Gattin Rilkes) Akte einer Landarbeiterin geschaffen haben. Überhaupt unterstützt er die Kunst von Frauen, insbesondere Modersohns, und ist, noch bevor er Kommunist [2]wird, Feminist.

Kommunist wird er im Ersten Weltkrieg, in den er wie viele freiwillig eingetreten ist und aus dem er belehrt herauskommt. Er greift den Kaiser an, beteiligt sich an der Bremer Räterepublik von Johann Knief, widmet den Barkenhoff in eine Kommune um, verfasst kommunistische und pädagogische Schriften, schafft Wandmalereien, die auch Diego Rivera interessieren. Nachdem er das Land schon seit 1924 wiederholt bereist hat, siedelt er 1932 in die Sowjetunion über, wo er mit einer Vielzahl von Künstlergruppen in Verbindung steht. Nach dem Angriff Nazideutschlands aus Moskau evakuiert, stirbt er entkräftet 1942, mit 70 Jahren.

Was interessiert Noëlle an diesem Stoff? Die Frauengeschichten, vielmehr zwei Ehefrauen. Die Verbindung Vogelers mit der Dresdener Arbeiterin Marie Griesbach erwähnt sie ebenso wenig wie die mit der Malerin Ursula Dehmel. Was die Ehedramen betrifft – Vogelers Partnerschaften mit Martha Schröder (Anna Maria Mühe) und Sonja Marchlewska (Alice Dwyer) –, ist ihr kein Effekt zu teuer: Hologramme, Projektionen, Bildbearbeitungen, Verfremdungen, Animationen, sphärische Chöre.

Die Kunst muss dabei ebenso kurz kommen wie die Politik. Die Wendung Vogelers hin zum Expressionismus nach dem Krieg ignoriert der Film, zeigt allerdings die erstaunlichen »Komplexbilder«, prismatische Montagen, in denen der Maler Norbert Bisky eine »cinematographische Bildauffassung« erkennt. Man kann darin auch, politisch gewendet, Formprinzipien des Jugendstils wiederfinden.

Noëlle lässt den Mäzen Ludwig Roselius (Uwe Preuss) auftreten, der als Hersteller des koffeinfreien Kaffee Hag Millionen gemacht hat. Historisch korrekt stellt sie den Versuch des Mäzens nach, Vogeler von der Politik abzubringen. Aber dass Roselius, was Vogeler selbst herausfinden musste, ein Nazi der ersten Stunde und ein Antisemit war, kommt im Film nicht vor, das wäre wohl nicht so bekömmlich gewesen wie der Kaffee. Eine bekömmliche Psychostudie zum 150. Geburtstag Vogelers zu produzieren, ist erkennbar das Ziel dieses Werks. Es schließt an ein frühes an.

Infolge einer Verkettung unglücklicher Umstände wohnte ich 1996 der Aufführung von Noëlles Debüt »Ich erzähle mir einen Mann« auf dem Max-Ophüls-Festival Saarbrücken bei. In meiner Besprechung schrieb ich, leidgeprüft: »Alles, was Kunstgewerbe und Neo-Archaik zu bieten haben, findet sich in diesem Elaborat, das von den Festivalbesuchern begeistert aufgenommen wurde.« Es ist mir, als hätte ich, 26 Jahre vor seinem Start, auch schon über Marie Noëlles Vogeler-Film geschrieben.

»Heinrich Vogeler. Maler, Genosse, Märtyrer«: Deutschland 2022. Regie: Marie Noëlle. Mit Florian Lukas, Anna Maria Mühe u.a. 90 Minuten. Start:12. Mai.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162001.ukraine-krieg-lasst-uns-in-frieden-gegen-leere-erloesungsfantasien.html?sstr=Rainer Maria Rilke
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1160450.ronald-m-schernikau-eine-welt-ohne-haende.html?sstr=Kommunist