nd-aktuell.de / 21.05.2022 / Kultur / Seite 1

Das Unlebbare lebbar machen

Bolívar Echeverrías Analysen zur Zerstörung des Gebrauchwerts sind teilweise auf Deutsch erschienen

Stefan Gandler
Kein Tag ohne: Die Menschheit ist auf Gebrauchswerte zu ihrer Bedürfnisbefriedigung angewiesen, selbst wenn die repressiven kapitalistischen Verhältnisse eines Tages Geschichte sein sollten
Kein Tag ohne: Die Menschheit ist auf Gebrauchswerte zu ihrer Bedürfnisbefriedigung angewiesen, selbst wenn die repressiven kapitalistischen Verhältnisse eines Tages Geschichte sein sollten

Die ethno- und eurozentrische Selbstverliebtheit der westdeutschen, zumal Berliner 1968er-Bewegung hat Bolívar Echeverría – geboren 1941 im ecuadorianischen Riobamba und 2010 in Mexiko-Stadt gestorben – zeitlebens gekränkt. Im Jahre 1994 äußerte er im Interview mit dem Verfasser dieser Zeilen, dass bei der Demonstration gegen den kongolesischen Ministerpräsident Moise Tschombé im Jahre 1964 in Berlin, mit der »alles anfängt«, Teilnehmer aus der Dritten Welt dominieren, die ersten Reihen bilden und erst allmählich die deutsche Beteiligung an den Protesten zunimmt. In der Flut vor Ort entstandener 68er-Chroniken ist dieses Detail aber untergegangen. Echeverría verbringt von 1961 an sechs Studentenjahre in der geteilten Stadt, schließt auf Lebensdauer Freundschaft mit Rudi Dutschke und Horst Kurnitzky, verliebt sich in seine erste Ehegattin Ingrid Weikert, diskutiert mit allen dreien, und veröffentlicht mit Kurnitzky zwei Bücher in der Sprache von Bertolt Brecht, unter anderem die erste lokale »Che«-Guevara-Biografie und vieles mehr. Und trotzdem bleibt er ein Fremder im Schatten der Mauer – für immer.

Oder doch nicht? Jetzt, 60 Jahre später, erscheint endlich im Argument-Verlag ein Buch Echeverrías in seiner geschätzten Zweitsprache, in der er so oft mit seinem ersten Sohn Andrés Echeverría Weikert philosophiert hat. Zentral ist in dieser posthumen Sammlung von zehn Kapiteln (zusammengepflückt aus seinen 13 zu Lebzeiten erschienen Büchern) ein von Bolívar Echeverría eingeführter Begriff, der insbesondere in den Kapiteln »15 Thesen zu Moderne und Kapitalismus« und »Der barocke Schlüssel Lateinamerikas« entwickelt wird. Es handelt sich um den Begriff des »historischen Ethos«, den Dreh- und Angelpunkt seiner antikapitalistischen, antieurozentrischen und undogmatischen Sozialphilosophie, die an Marx, Heidegger, Benjamin, Horkheimer und Adorno geschult ist. Dieser Begriff geht in seiner inhaltlichen Bestimmung von der realen Subsumtion der Gebrauchswertproduktion unter die Wertproduktion aus. Die Untersuchungen zum Ethos schließen dabei an seine vorangehenden zum Gebrauchswert als Naturalform der gesellschaftlichen Produktion an.

Destruktive Tendenzen

In letzter Instanz tendiert, so Echeverría, die kapitalistische Produktionsweise dazu, alle Gebrauchswerte zu zerstören, ihrer destruktiven Logik zu opfern. Der Umstand, dass die Wertproduktion immer eines Mindestmaßes an Gebrauchswertproduktion zum eigenen Fortbestehen zugleich bedarf, heißt nicht notwendigerweise, dass dieser Prozess eine natürliche Schranke hat, welche diese den herrschenden Verhältnissen immanente destruktive Tendenz irgendwann unausweichlich gegen die Verhältnisse selbst wenden wird. Vielmehr besteht die Gefahr, die schon Rosa Luxemburg mit dem Diktum »Sozialismus oder Barbarei«[1] aussprach, dass die Selbstzerstörung eine der Menschheit überhaupt sein könnte.

Sollte der Gebrauchswert endgültig verschwinden, so verschwände damit auch der Wert samt Mehrwertproduktion und somit ebenfalls die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Die repressiven kapitalistischen Verhältnisse wären damit zwar von der Erde, mit ihnen aber auch die Menschen selber, die ohne Gebrauchswerte, ohne Mittel zur Bedürfnisbefriedigung keinen Tag leben können. Worum es also zu gehen hat, ist eine Überwindung der Subsumtion des Gebrauchswertes unter den Wert anzustreben, welche die Gebrauchswertproduktion als solche erhält. Aus der Perspektive von Echeverrías Sozialphilosophie ist diese dringend notwendige Befreiung der Gebrauchswertproduktion von der sie beherrschenden Wertproduktion mitnichten durch einen einmaligen »messianischen Akt« zu lösen. Historisch sind Gebrauchswert- und Wertproduktion derartig eng miteinander verwoben, dass es als schier unlösbare Aufgabe erscheint, diese Befreiung zu denken oder gar herbeizuführen.

Echeverrías Ansatz in diesem Dilemma ist folgender: Er drängt über die Sphäre der Produktion stärker hinaus, als Marx dies tat, und bemüht sich um die Aufnahme von Momenten des Alltages in den Blickwinkel der Analyse. Im westlichen Marxismus wurde dies versucht, so widmete Georg Lukács in »Geschichte und Klassenbewusstsein« [2]der Ideologiekritik große Aufmerksamkeit. Er stellte damit die Frage, warum trotz der gegebenen objektiven Bedingungen die Subjekte der Geschichte den Schritt aus der »Vorgeschichte« (Marx) heraus nicht tun.

Echeverría will darüber noch hinausgehen und in der Analyse nicht nur die Ideologie, sondern wesentlich mehr Formen des Alltags erfassen. Er versucht, all das zu analysieren, was die an und für sich unerträglichen herrschenden Verhältnisse scheinbar erträglich macht. Im Unterschied zu Lukács sind dies nicht bloß ideologische Formen, die den falschen gegenständlichen Schein erwecken, das Gegebene sei gar nicht unerträglich, sondern pässlich und im Grundsätzlichem unveränderbar. Sondern es sind zudem auch Verhaltensformen, gesellschaftliche Institutionen und so weiter, die diese scheinbare Erträglichkeit des Unerträglichen herstellen. Der springende Punkt dabei ist, dass diese Alltagsformen nicht schlicht aus dem Wertverhältnis heraus zu analysieren sind, sondern auch aus der konkreten Form der je produzierten und konsumierten Gebrauchswerte.

Das historische Ethos

Die Gesamtheit der regional und zeitlich diversen Alltagsformen zum Ertragen der den Gebrauchswert tendenziell zerstörenden, also unerträglichen herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse nennt Bolívar Echeverría das historische Ethos. In seinen Worten ist »die strukturelle gesellschaftliche Verhaltensweise, die wir historisches Ethos nennen (…) eine Verhaltensweise, die versucht, das Unlebbare lebbar zu machen.«

Echeverría spricht von vier historischen Ethen der kapitalistischen Moderne (realistisches, romantisches, klassisches und barockes Ethos) als eine je »besondere Art und Weise, mit dem Kapitalismus zu leben«. Dabei fasst er die unterschiedlichen Ethen als Grundlage von »verschiedenen komplexen Spontaneitäten«, welche die »Alltagserfahrung der Lebenswelt, wie sie die kapitalistische Moderne ermöglicht,« ausmachen oder bezeichnet sie auch als eine »Form, das Kapitalistische zu naturalisieren«.

Jedes historische Ethos ist die Gesamtheit von Bräuchen, sozialen Institutionen, Denk- und Handlungsformen, Werkzeugen, Produktions- und Konsumtionsformen von Gebrauchswerten, die es ermöglichen, in den unmenschlichen kapitalistischen Produktionsverhältnissen als Mensch oder menschliche Gesellschaft zu leben. Und zwar ohne sich permanent eine Lösung des je anstehenden Problems, das sich aus diesen Verhältnissen ergibt, erfinden zu müssen. Daher stellen sich die verschiedenen Ethen als verschiedene Grundlagen je unterschiedlicher »komplexer Spontaneitäten« dar, denn durch sie sind bestimmte Handlungs- und sonstige Muster vordefiniert, die ein Ertragen der unerträglichen Widersprüche der bestehenden Verhältnisse nicht nur ermöglicht, sondern als etwas Automatisches, Instinktives oder Spontanes erscheinen lässt. Erst die differenzierte Analyse der heute parallel existierenden vier Ethen der kapitalistischen Moderne erlaubt das umfassende Erkennen der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse, das notwendig ist, um zu verstehen, warum eine Überwindung dieser destruktiven Gesellschaftsformation bisher nicht möglich war. Eventuell mit der Möglichkeit, davon ausgehend Lösungsansätze zu entwickeln.

Holprige Übersetzung

Soweit einige Gedanken aus dem besprochenen Buch, dessen Erscheinen nach 25 Jahren ohne deutschsprachige Texte Bolívars erfreulich ist. Bedauerlicher Weise begründen die Herausgeber nicht, warum sei keines der von Echeverría in Mexiko selbst veröffentlichten Bücher wie »Las ilusiones de la modernidad« in seiner Integrität respektieren und ins Deutsche übersetzen, noch nennen sie die Kriterien ihrer Textauswahl, geschweige denn begründen sie diese. Die bezüglich der Hälfte der Kapitel fehlenden Angaben zu deren ursprünglichen Veröffentlichung ergänzen das Bild einer stolpernden Herausgeberschaft wie auch unzählige Übersetzungsfehler, die den sozialphilosophischen Ansatz Echeverrías zum Teil in sein Gegenteil verwandeln.

Ein Beispiel: Bolívar Echeverría ist nicht müde geworden zu erklären, warum er eine im Spanischen (so wie im Deutschen) eigentlich inexistente Pluralform von »el ethos« ( »das Ethos«) einführt, die er mit »los ethe« notiert (analog im Deutschen: »die Ethen«). Der Übersetzer verwässert aber den radikalen Gesellschafts- und Sprachkritiker. Echeverrías ureigene, und für sein Denken zentrale, spanischsprachige Wortschöpfung »ethe«, als neu eingeführte Pluralform von »ethos«, kocht der Übersetzer »mangels eines Plurals im Deutschen« mit oberlehrerhafter Geste in »Formen von Ethos« herunter. Als ob Echeverría, dem seine guten Deutschkenntnisse wichtig waren, nicht wüsste, dass diese Pluralform weder im Deutschen noch im Spanischen existiert.

David Graaf nimmt mit der Übersetzung dem Text seinen Witz und den zentralen Unterschied zu Max Weber: dass es eine Vielzahl parallel existierender Ethen der kapitalistischen Moderne gibt, und nicht einen einzigen Ethos, wie in Webers Nachfolge naiv eurozentristisch vorausgesetzt wird. Dass dieser Einheitsethos seine Unterformen hat, das weiß auch Weber, dafür bräuchte es dann keinen ecuadorianisch-mexikanischen Sozialphilosophen mehr. Der Verlag hätte sich und dem philosophischen Erbe Bolívar Echeverrías einen Gefallen getan, wenn er ein zu Lebzeiten von ihm zusammengestelltes Buch, ich denke insbesondere an »Las ilusiones de la modernidad« oder »El discurso crítico de Marx«,veröffentlicht und einen in sein Denken eingelesenen Übersetzer engagiert hätte.

Bolívar Echeverría: Für eine alternative Moderne. Studien zu Krise, Kultur und Mestizaje. Argument-Verlag, 240 S., br., 20 €.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1146944.rosa-luxemburg-gott-erhalte-uns-den-kommunismus.html?sstr=che guevara
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1152825.georg-lukacs-philosophie-der-praxis.html?sstr=Geschichte und Klassenbewusstsein