nd-aktuell.de / 02.06.2022 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 1

Schuldnerberatungsstellen am Limit

Hohe Energie- und Lebensmittelpreise werden für viele Menschen zur Belastung

Lisa Ecke
Wem eine Stromsperre droht, ist ganz besonders auf schnelle Beratung angewiesen.
Wem eine Stromsperre droht, ist ganz besonders auf schnelle Beratung angewiesen.

»Pandemie und Inflation sind bei uns deutlich zu spüren«, berichtet Annabel Oelmann, Vorständin der Verbraucherzentrale Bremen, am Donnerstag anlässlich einer veröffentlichten Umfrage der Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände. »Es kommen immer mehr Menschen, die ihre Miete [1]und Stromkosten nicht mehr zahlen können«, so Oelmann. Im Frühjahr 2022 verzeichneten die gemeinnützigen Schuldnerberatungsstellen in Deutschland im Vergleich zum Spätsommer 2021 einen deutlichen Anstieg bei der Nachfrage nach Beratung.

Mehr als die Hälfte der befragten Beratungsstellen nannte zwischen zehn und 30 Prozent
mehr Anfragen im Vergleich zum Sommer 2021. Damit setzt sich der Trend einer ersten
Befragungswelle im Sommer 2021 fort, die bereits einen deutlich erhöhten Beratungsbedarf[2]
festgestellt hat. 32 Prozent der Beratungsstellen gaben im ersten Quartal dieses Jahres eine
erhöhte Nachfrage nach Beratung zu Miet- und Energieschulden an. Im Sommer 2021 waren es erst 28,5 Prozent.

»Das trifft vor allem Menschen, die besonders anfällig sind, weil sie meist kein finanzielles Polster [3]haben – wie zum Beispiel Geringverdiener, Rentnerinnen, Solo-Selbstständige und Studierende«, erklärt Maria Loheide, Vorständin für Sozialpolitik der Diakonie Deutschland, auf der Pressekonferenz zur Vorstellung der Umfrage. »Schnelle Hilfe scheinen oft unseriöse oder unqualifizierte Angebote zu versprechen, die im schlimmsten Fall gar aus der Situation Profit schlagen«, so Loheide. Die Arbeitsgemeinschaft Schuldnerberatung der Verbände, in denen unter anderem der Paritätische Wohlfahrtsverband, die Diakonie, die Caritas und der Verbraucherzentrale Bundesverband Mitglieder sind, fordert daher einen gesetzlichen Anspruch auf kostenlose Schuldner- und Insolvenzberatung. »Kommunen sollten verpflichtet werden, Schuldnerberatung entsprechend dem gesellschaftlichen Bedarf kostenlos vorzuhalten. Die öffentliche Hand würde davon profitieren, denn die enormen sozialen Folgekosten blieben aus«, so Loheide.

Schätzungen zufolge sind in Deutschland drei bis sieben Millionen Menschen überschuldet. Im vergangenen Jahr nahmen laut des Statistischen Bundesamtes jedoch nur knapp 575 000 Betroffene Hilfe von Beratungsstellen in Anspruch. Das waren etwas weniger als ein Jahr zuvor. Laut Statistischem Bundesamt nannten im Jahr 2021 knapp 20 Prozent der Betroffenen Arbeitslosigkeit als Grund für ihre Überschuldung. Als zweithäufigste Gründe wurden Erkrankung, Sucht oder Unfall genannt (zusammen 16,9 Prozent). Gefolgt von Trennung, Scheidung oder Tod der Partnerin beziehungsweise des Partners.

Doch die Beratungsstellen registrieren nicht weniger, sondern mehr Nachfrage an Schuldnerberatungen. Auch Eva Maria Welskop-Deffaa, Präsidentin des Deutschen Caritasverbandes, stellt fest, dass die Wartelisten für Beratungen immer länger werden. »Das Tempo beim Ausbau der Schuldnerberatung – analog und digital – muss mit der Geschwindigkeit Schritt halten, mit der die Krisen Menschen in ökonomische Not bringen.« Aktuell sind die Verbraucherpreise so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Im April lagen sie um 7,4 Prozent über dem Niveau[4] des Vorjahresmonats, sodass Schuldnerberatungen künftig mit noch mehr Beratungsbedarf rechnen.

Gerade bei der Gas- und Stromsperre bestehe das Problem, dass die Menschen in »absoluter Zeitnot« seien, so Oelmann von der Verbraucherzentrale Bremen. Da gehe es um eine Sperre am nächsten Tag oder bestenfalls in einer Woche. Die Betroffenen kämen dann ohne Termin in die Beratungsstelle und müssen teils lange warten, bevor sie Hilfe erhalten. »Aber sie dürfen nicht auf die lange Bank geschoben werden, weil dann wird erst mal abgedreht. Und dann wird’s richtig teuer«, meint Oelmann. »Und wir reden von Menschen, die haben an der Stelle keine Schulden von drei oder sechstausend Euro. Wir reden von 320 Euro.« Zudem werde beobachtet, dass im Vergleich zu der Zeit vor der Corona-Pandemie immer mehr Ratsuchende mit psychischen Erkrankungen Schuldnerberatungsstellen aufsuchen. »Wir müssen leider viele wieder wegschicken, weil sie gar keinen Anspruch auf Beratung haben.« In Deutschland haben nicht alle Menschen die Möglichkeit, sich in der gemeinnützigen Schuldnerberatung professionell beraten zu lassen – oder erst dann, wenn es zu spät ist. Wer keine Sozialleistungen bezieht, kann Schuldnerberatung nicht kostenlos in Anspruch nehmen. Aber auch lange Wartezeiten für Berechtigte sind verheerend, nicht selten führen diese zu Hoffnungslosigkeit bei Betroffenen, bis hin zu Depressionen.

Der Verbraucherzentrale Bundesverband forderte bereits Ende April angesichts der hohen Energiepreise, das Abstellen von Strom oder Gas wegen unbezahlter Rechnungen auszusetzen. Aktuell treffen die Preissteigerungen nicht nur Sozialleistungsempfänger, sondern auch Menschen, die eigentlich immer noch gerade so zurechtgekommen sind. »Die Preissteigerungen führen realtiv schnell dazu, dass auch denen die Luft ausgeht«, fasst Oelmann die Situation zusammen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1155282.mietenwahnsinn-hohe-mieten-bringen-viele-in-existenznot.html?sstr=Mietkosten
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1158079.schulden-mehr-menschen-in-finanzieller-not.html?sstr=schuldnerberatungsstellen
  3. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1162900.energiearmut-grundsicherung-schrumpft.html?sstr=Wolldecke
  4. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1163351.inflation-energie-und-nahrung-treiben-inflation-an.html?sstr=Inflation|April