nd-aktuell.de / 12.01.2024 / Kommentare / Seite 1

Stanley Quencher Cup: Der Schluck, der um die Welt ging

Nadia Shehadeh vermutet den nächsten Internet-Hype in einem Küchenschrank

Nadia Shehadeh

Im riesigen Universum der Popkultur entfachte sich im Jahr 2023 ein unerklärlicher Hype um einen schnöden Thermosbecher aus den USA. Auch in Deutschland, eigentlich Epizentrum der Emsa-Trinkgefäße, war man nicht immun gegen diesen Trend. Vor allem das junge, weibliche Social-Media-Publikum war dem Statussymbol schnell erlegen. Die Rede ist vom Edelstahlbecher der Marke Stanley. Genauer gesagt: dem »Stanley Quencher H2.0«. Der »Quencher« tauchte auch irgendwann auf meinem Social Media-Radar auf, da viele junge Content-Kreateur*innen scheinbar nur noch aus diesem Gefäß ihre Flüssigkeitsaufnahme gewährleisten konnten und ihren neuen Lieblingsbecher zärtlich »Stanley Cup« nannten.

1,2 Liter Fassungsvermögen hat der Oschi, stundenlang soll er die Getränke kalt halten können, und als Popkultur-Oma war ich natürlich interessiert an den anderen Randdaten dieses Objekts der Begierde. Schnell fand ich heraus, dass der »Quencher« geschmeidige 50 Euro kostet – und es schreckte mich nicht groß auf. Ich weiß, dass es Menschen gibt, die Töpfe für 500 Euro und Küchenmaschinen für 800 Euro besitzen – da machte mir ein 1,2-Liter-Thermobecher für 50 Schleifen keinen Herzschmerz. Flüssigkeitszufuhr in teuer mit Must-Have-Effekt – es erschien mir angesichts Krieg, Terror und aller anderen Katastrophen zwar unnütz, aber harmlos. Und vielleicht machte genau das den Erfolg des »Stanley Cup« aus: ein Symbol der Selbstfürsorge in einer Welt, die scheinbar immer mehr auseinander brach.

Der Hersteller Stanley hatte zuvor jahrelang ein eher männliches Publikum angesprochen und vor allem Trinkflaschen für Handwerker hergestellt – solide, ohne großes Chichi und ohne unfassbaren Hype. Dann stieß 2020 Terence Reilly, der fünf Jahre lang der Chief Marketing Officer der berüchtigt-hässlichen, aber sehr kultigen Schuhmarke »Crocs« war, zu Stanley und der Dominanzzug des Bechers nahm seinen Lauf. Unter seiner Leitung wurden in regelmäßigen Abständen neue Quencher-Variationen produziert und beworben, die ihre Wege zunächst in digitale Influencerwelten und dann in den Sammelwahn der Ottonormalverbraucher*innen fanden.

Dann veröffentlichte im November 2023 eine Frau ein TikTok-Video, in dem sie in ihrem komplett ausgebrannten Auto ihren Stanley Quencher aus der Getränkehalterung befreit. Im Internet wurde das Video mit Begeisterung verbreitet: Schließlich war der »Quencher« nicht nur nahezu unversehrt, nein, auch die Eiswürfel im Becher waren nicht geschmolzen. Ein Becher nicht nur als Symbol von Self-Care, sondern auch als Metapher für Widerstandsfähigkeit in einer immer unberechenbarer werdenden Welt. Dazu versehen mit einer wirklichen Nutzfunktion: Es erschien mir nur logisch, dass gerade das weibliche Publikum, dass zudem noch dabei war, zu »decluttern«, also allerlei Ballast loszuwerden, dem kaum vorhandenen Charme des minimalistisch wirkenden 1,2-Liter-Fass erlag. Und auch wenn der Preis einigermaßen gaga war – was waren schon 50 Euro im Vergleich zu den hunderten und tausenden von Schleifen, die man für andere Prestigeobjekte auf den Tisch legen kann? Ein Becher als Statussymbol: Teuer, aber dennoch erschwinglich für viele, die sich trotzdem mal »was gönnen« möchten. Unnötig, aber eventuell harmloser als vieles andere, dass man diesem Planeten zumuten kann.

Diese Rechnung wurde allerdings ohne ein paar Moralapostel im Internet gemacht: Einige Social-Media-Expert*innen nahmen naserümpfend wahr, dass der Quencher in der Saison 2023 ein beliebtes Weihnachtsgeschenk gewesen ist und zudem noch zum Sammlerobjekt anvanciert ist. Manche Stanley-Fans hatten nämlich nicht nur einen, sondern gleich fünf, zehn oder direkt mehr Quencher-Becher angehäuft. Und so wurde der Stanley Quencher vom Prestigeobjekt auch zum Hasssymbol für Überkonsum und schadhaftes Kaufverhalten – und die Stanley-Fans zur Speerspitze des Kapitalismus erklärt.

Insbesondere Frauen, twitterte jemand, seien diejenigen, die zu Überkonsum neigen würden, worauf einige entgegneten, dass sie auch diejenigen seien, die im Rahmen von Care-Arbeit und Mental Load zum Großteil die Anschaffungen für Haushalte managen müssten. Aber das tat der neu gewonnenen Bestürzung über Thermosbecher-Sammler*innen keinen Abbruch. Fleißig wurden Videos geteilt, in denen sich in einem US-amerikanischen Supermarkt Käufer*innen auf einen pinken »Stanley Quencher« stürzen, kommentiert mit inbrünstiger Entrüstung. Diese Arschlöcher, so der Tenor, seien auf jeden Fall gute Beispiele für Menschen, die dem Überkonsum verfallen sind – und somit eine Gefahr für den Planeten. Die Bilder von Teenies, BIPoC-Frauen und der durchschnittlichen Supermarktklientel sollten dies anscheinend noch untermauern. Reiche Leute, die man dabei erwischt, wie sie dezent-elegant zu Shoppingtouren aufbrechen, könnten niemals so viel Hass produzieren.

Natürlich braucht niemand einen Thermobecher für 50 Euro. Man kann auch weiterhin aus ausgespülten Senfgläsern, Leonardo-Bechern oder geerbtem Nachtmann-Kristall seine Getränke schlürfen. Der Kapitalismus hält schließlich abertausende Variationen bereit. Dass überteuerte, aber erschwingliche Produkte einen Hype entfachen, gehört ebenfalls zu diesem Spielchen. Es ist aber bezeichnend, dass immer dann ein Fass aufgemacht wird, wenn vor allem Frauen die Konsumentinnen von Schnittenfittich sind, obwohl die Palette an Produkten, die niemand braucht, weitaus größer ist als alles, was im Rahmen von Marketingmaßnahmen für ein vor allem weibliches Publikum mit mittel viel bis wenig Geld angeboten wird.

Braucht man den Quencher? Natürlich nicht. Ich hatte ihn in der Hand, er lässt sich nicht richtig schließen, er ist groß und sperrig, der verstaubte Emsa-Becher tut es genauso gut. Aber ich verstehe, warum er einen besonderen Reiz auf so viele ausübt: Er ist eine visuelle Requisite digitaler Popkultur geworden, er hilft dabei, ein Grundbedürfnis zu stillen, und er scheint unkaputtbar. Natürlich kann man mit dem Quencher keine Apokalypse überleben – auch nicht, wenn er ein brennendes Auto überlebt. Dafür ist er zu unhandlich, zu schwer und zu unpraktisch. Aber er gibt vielen jungen Frauen anscheinend das Gefühl, dass sie ihr Leben im Griff haben. Und niemand kann ihnen das verbieten – auch wenn sie nur einer Illusion aufsitzen.