nd-aktuell.de / 10.05.2024 / Kultur / Seite 1

Deutsche Kolumnentradition

Wird hier der Stumpfsinn warmgestellt?

Thomas Blum
Die gute Kolumne hält lieber Abstand zum Rest.
Die gute Kolumne hält lieber Abstand zum Rest.

Ich bin mir nicht sicher, ob in einer besseren Zukunft nicht vollständig auf das Verfassen und Publizieren von Zeitungskolumnen verzichtet werden sollte. Denn Kolumnen haben nur Nachteile: In der Regel werden von den Autorinnen und Autoren ausschließlich Alltagsbanalitäten ausgebreitet (neulich in der U-Bahn, neulich im Supermarkt, als ich einmal versehentlich ein Bibliotheksbuch zu spät zurückgegeben habe, mein erster Geschlechtsverkehr usw.), obendrein oft genug ungelenk geschrieben, in grobgezimmerten Vierwortsätzen oder unter Zuhilfenahme ermüdender Satzgirlanden, sodass man rasch den Eindruck bekommt: Ein halbwegs geistig agiler Fünfjähriger hätte das eleganter formuliert.

Oder es wird – wenn es sich um eine explizit tages- oder wochenpolitische Kolumne handelt – banales Geschwätz von Politikern (»eine große Hürde ist genommen worden«, »wir stehen gemeinsam auf Seiten der Freiheit«, »heute ist ein Tag der Zuversicht«) publizistisch in einer Weise wiederaufbereitet und kommentiert, die dem banalen Geschwätz höhere Weihen erteilen und es zu einer Sammlung tiefsinniger Weisheiten veredeln soll (»Angela Merkel hat den gordischen Knoten durchschlagen und dem bayerischen Löwen die Krallen gestutzt«, »er hat seinem Kontrahenten den Wind aus den Segeln genommen – und gleichzeitig rote Linien gezogen«, »dem erfahrenen Schlachtross Friedrich Merz ist es gelungen, den festgefahrenen Karren seiner Kandidatur aus dem Umfragentief zu ziehen«).

Kolumnen verbreiten also häufig nicht nur Langeweile oder affirmieren – nicht selten gespickt mit Redewendungen, aus denen der Kalk von zwei Jahrhunderten rieselt – die derzeitigen erbärmlichen politischen Verhältnisse (oder tun beides). Sie haben außerdem einen (wenn wir schon bei Karren und Schlachtrössern sind) weiteren entscheidenden Pferdefuß: Man muss sie lesen, wodurch wertvolle Lebenszeit verloren geht, die man auch sinnvoll nutzen könnte (Arbeiten, Shoppen, Autofahren).

Hinzu kommt: In der Regel werden Kolumnen von verbitterten alten weißen Männern geschrieben (Martenstein, Fleischhauer, F.J. Wagner usw.), denen noch immer das Herz blutet, weil Konrad Adenauer nicht mehr Bundeskanzler ist und heutzutage Frauen an Wahlen teilnehmen und sogar Hosen tragen dürfen. Manchmal ernst, meist aber »heiter und augenzwinkernd« berichten sie in Kolumnen, die Titel tragen wie »Auf ein Wort«, »Unter der Lupe« oder »Post von Opa«, von den skandalösen Zuständen in unserem täglich verrückter werdenden Land (linker Klimarettungsirrsinn, Gendersternchenfaschismus, hosentragende Frauen), von der alles überstrahlenden Schönheit der deutschen Autobahn oder ihren Erektionsproblemen.

Das muss nicht sein. Andere Kolumnen sind möglich: Kolumnen, die nicht perfekt auf das preußische Untertanengehirn zugeschnitten sind. Kolumnen, in denen nicht »der Stumpfsinn warmgestellt ist« (Thomas Bernhard). Kolumnen, in welchen garantiert niemals die Wendung »Wir Deutsche« auftaucht.

In drei Punkten steht zwar auch diese neue Kolumne, die Sie gerade lesen, fest in der althergebrachten, ja unerschütterlichen deutschen Kolumnentradition: 1. Sie besteht aus einer begrenzten Zahl von Buchstaben. 2. Sie hat einen festen Erscheinungstag (Montag) und -ort[1]. 3. Sie wird von einem verbitterten alten weißen Mann geschrieben. Sie unterscheidet sich allerdings auch in einem wesentlichen Punkt von der genannten Tradition: Sie versteht sich als grundsätzlich nicht einverstanden mit der derzeit herrschenden sogenannten Realität. Tja. Und das ist ja schon mal nicht wenig.

Ob diese Kolumne gebraucht wird oder ob künftig auch auf sie verzichtet werden sollte, steht noch nicht fest. Sicher ist jedenfalls: Sie erscheint, wenn uns bis dahin nicht der Himmel auf den Kopf fällt, nächsten Montag wieder an dieser Stelle.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/gastautoren/autor/241