Dienstag war ein amüsanter Tag in der Berliner Politik-, Medien- und Twitterblase. Friedrich Merz bekam im Bundestag keine Mehrheit als Kanzler. Was danach folgte, war eine Demokraten-Meltdown-Performance in Echtzeit.
»Kein Grund zur Freude«, las man von Grünen Abgeordneten. »Verantwortungslosigkeit«, schimpften Journalisten. »Das hilft der AfD!« Und so weiter und so fort. Die Aufregung war groß. Nicht weil Merz, der rechte Hardliner,[1] einmal kurz einen Korb kassierte, sondern weil einige Abgeordnete sich erdreisteten, von der Erwartung abzuweichen.
Was war passiert? Einige Abgeordnete – ich schätze vor allem aus der SPD – hatten sich entschlossen, Merz die Unterstützung zu verweigern. Nicht im Sinne der Regierung und der CDU, sondern im Sinne ihres Gewissens zu stimmen. Das ist weder ein Bruch noch ein Tabu. Vielleicht nicht schön für die CDU. Aber absolut legitim.
Wenn man die unmittelbar danach verfassten Kommentare las, konnte man denken, es sei 5 vor 12 für unsere Demokratie. Doch die aufgeblasene Reaktion hatte vor allem eine Funktion: den Status Quo verfahrenstechnisch verteidigen. Dass CDU & co das machen, weil es ihnen nützt, Druck auf »Widerstände« in der SPD auszuüben, um am Ende ihren Schuh durchziehen zu können, verstehe ich ja noch. Aber dass sich »Progressive« da mit einbinden lassen, im Glauben so den Fortbestand der Demokratie zu sichern? Schlechte Idee.
Was in der Mitte des »progressiven« Milieus als Demokratie verstanden wird, ist selten mehr als das geordnete Abnicken der immer gleichen Machtverhältnisse
Denn was in der Mitte dieses politischen Milieus als Demokratie verstanden wird, ist selten mehr als das geordnete Abnicken der immer gleichen Machtverhältnisse. Demokratische Aushandlung heißt dort nicht Richtungsstreit oder Veränderung, sondern Stabilität. Hauptsache, es bleibt berechenbar. Hauptsache, die Regierung steht. Auch wegen Trump und Putin und so.
Und wenn nichts mehr zieht, dann muss man eben sagen, dass »das der AfD hilft«. Dieser Satz erinnert mich mittlerweile an verzweifelte Erziehungsversuche von Eltern. À la »wenn du nicht brav bist, kommt der Weihnachtsmann nicht.« »Iss deinen Teller leer, sonst hilft das der AfD«. »Merz wählen – sonst hilft das der AfD.«
Dass Merz als Demokratieretter akzeptiert wird, zeigt, wie weit nach rechts der Maßstab gerutscht ist. Und wie wenig Raum geduldet wird für echte Opposition. Dabei ist die Realität außerhalb der Regierungsblase umgedreht: Viele Menschen in diesem Land sehen längst keinen Unterschied mehr zwischen den Regierungen. Nicht, weil sie dumm sind, sondern weil ihnen das, was am Ende rauskommt, kaum hilft. Mieten steigen, Löhne stagnieren, das Sozialsystem wird abgebaut, während oben weiter profitiert wird. Dass Menschen diesem Betrieb mit Misstrauen begegnen, liegt nicht an irgendeiner »Bildungsferne«, sondern ist realistischer als das, was sich viele Leute in Berlin-Mitte über den Politikbetrieb einbilden.
Was am Dienstag im Bundestag passiert ist, war keine Staatskrise. Aber ja, es war ein Schock für diejenigen, die sich lange darauf verlassen konnten, dass die Dinge einfach laufen. Auch ich hätte nicht damit gerechnet, dass jemand abweicht.
Haben diese Nein-Stimme jetzt viel bewirkt? Nein. Haben sie verhindert, dass Merz Kanzler wird? Nein. Kommt die GroKo trotzdem? Klar. Aber ich glaube, dass es nie besser werden kann, wenn man nicht anfängt, sich zu trauen, mal gegen den Strom zu schwimmen. Auch aus einer Ablehnung kann etwas Positives entstehen, weil es den Raum öffnet, über Alternativen nachzudenken. In dem Sinne: Vielen Dank an die Abweichler für den kurzen Moment der frischen Luft!
Quelle: https://www.nd-aktuell.de/artikel/1191128.merzwahl-brav-merz-waehlen-sonst-hilft-das-der-afd.html