Werbung

Brav Merz wählen, sonst hilft das der AfD

Der kurze Moment der Verweigerung bei der Kanzlerwahl war eine Chance, glaubt Sarah-Lee Heinrich

Auch in der Linken umstritten: Bei der Kanzlerwahl ließ sich die Fraktionsspitze anstecken von der Staatskrisen-Panik und ermöglichte der Union einen schnellen zweiten Wahlgang.
Auch in der Linken umstritten: Bei der Kanzlerwahl ließ sich die Fraktionsspitze anstecken von der Staatskrisen-Panik und ermöglichte der Union einen schnellen zweiten Wahlgang.

Dienstag war ein amüsanter Tag in der Berliner Politik-, Medien- und Twitterblase. Friedrich Merz bekam im Bundestag keine Mehrheit als Kanzler. Was danach folgte, war eine Demokraten-Meltdown-Performance in Echtzeit.

»Kein Grund zur Freude«, las man von Grünen Abgeordneten. »Verantwortungslosigkeit«, schimpften Journalisten. »Das hilft der AfD!« Und so weiter und so fort. Die Aufregung war groß. Nicht weil Merz, der rechte Hardliner, einmal kurz einen Korb kassierte, sondern weil einige Abgeordnete sich erdreisteten, von der Erwartung abzuweichen.

Was war passiert? Einige Abgeordnete – ich schätze vor allem aus der SPD – hatten sich entschlossen, Merz die Unterstützung zu verweigern. Nicht im Sinne der Regierung und der CDU, sondern im Sinne ihres Gewissens zu stimmen. Das ist weder ein Bruch noch ein Tabu. Vielleicht nicht schön für die CDU. Aber absolut legitim.

Sarah-Lee Heinrich

Sarah-Lee Heinrich weiß, was Armut bedeutet. Die Ex-Sprecherin der Grünen Jugend ist in einem Hartz-IV-Haushalt aufgewachsen und engagiert sich seit vielen Jahren gegen soziale Ungleichheit. Sie wirbt für klassenbewusste Ökologie und schreibt jeden zweiten Montag im Monat in »nd.Digital« über Alltag und Ampel.

Wenn man die unmittelbar danach verfassten Kommentare las, konnte man denken, es sei 5 vor 12 für unsere Demokratie. Doch die aufgeblasene Reaktion hatte vor allem eine Funktion: den Status Quo verfahrenstechnisch verteidigen. Dass CDU & co das machen, weil es ihnen nützt, Druck auf »Widerstände« in der SPD auszuüben, um am Ende ihren Schuh durchziehen zu können, verstehe ich ja noch. Aber dass sich »Progressive« da mit einbinden lassen, im Glauben so den Fortbestand der Demokratie zu sichern? Schlechte Idee.

Was in der Mitte des »progressiven« Milieus als Demokratie verstanden wird, ist selten mehr als das geordnete Abnicken der immer gleichen Machtverhältnisse

Denn was in der Mitte dieses politischen Milieus als Demokratie verstanden wird, ist selten mehr als das geordnete Abnicken der immer gleichen Machtverhältnisse. Demokratische Aushandlung heißt dort nicht Richtungsstreit oder Veränderung, sondern Stabilität. Hauptsache, es bleibt berechenbar. Hauptsache, die Regierung steht. Auch wegen Trump und Putin und so.

Und wenn nichts mehr zieht, dann muss man eben sagen, dass »das der AfD hilft«. Dieser Satz erinnert mich mittlerweile an verzweifelte Erziehungsversuche von Eltern. À la »wenn du nicht brav bist, kommt der Weihnachtsmann nicht.« »Iss deinen Teller leer, sonst hilft das der AfD«. »Merz wählen – sonst hilft das der AfD.«

Dass Merz als Demokratieretter akzeptiert wird, zeigt, wie weit nach rechts der Maßstab gerutscht ist. Und wie wenig Raum geduldet wird für echte Opposition. Dabei ist die Realität außerhalb der Regierungsblase umgedreht: Viele Menschen in diesem Land sehen längst keinen Unterschied mehr zwischen den Regierungen. Nicht, weil sie dumm sind, sondern weil ihnen das, was am Ende rauskommt, kaum hilft. Mieten steigen, Löhne stagnieren, das Sozialsystem wird abgebaut, während oben weiter profitiert wird. Dass Menschen diesem Betrieb mit Misstrauen begegnen, liegt nicht an irgendeiner »Bildungsferne«, sondern ist realistischer als das, was sich viele Leute in Berlin-Mitte über den Politikbetrieb einbilden.

Was am Dienstag im Bundestag passiert ist, war keine Staatskrise. Aber ja, es war ein Schock für diejenigen, die sich lange darauf verlassen konnten, dass die Dinge einfach laufen. Auch ich hätte nicht damit gerechnet, dass jemand abweicht.

Haben diese Nein-Stimme jetzt viel bewirkt? Nein. Haben sie verhindert, dass Merz Kanzler wird? Nein. Kommt die GroKo trotzdem? Klar. Aber ich glaube, dass es nie besser werden kann, wenn man nicht anfängt, sich zu trauen, mal gegen den Strom zu schwimmen. Auch aus einer Ablehnung kann etwas Positives entstehen, weil es den Raum öffnet, über Alternativen nachzudenken. In dem Sinne: Vielen Dank an die Abweichler für den kurzen Moment der frischen Luft!

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.