nd-aktuell.de / 21.05.2011 / / Seite 23

Die letzten Zöglinge

JÜDISCHES LEBEN

Karlen Vesper

Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach ihrer ersten Zusammenkunft im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Berlin-Pankow trafen sie sich wieder, um das Jubiläum zu feiern: einstige Heimbewohner, die mörderischen deutschen Antisemiten in letzter Not entkommen waren. Seit der Wiedereröffnung des Waisenhauses 2001 als Begegnungsstätte (Foto: Archiv) sind sie jedes Jahr nach Berlin gereist, anfangs noch in größerer Schar. Mit Wehmut gedachten die letzten Acht der derweil verstorbenen Freunde.

Renate Bechar, Tochter des letzten, in Auschwitz ermordeten Direktors des Waisenhauses, die selbst mit ihrer Mutter Theresienstadt erlitten hatte, gestand, sie habe lange gebraucht, ihre Bitterkeit gegenüber Deutschland und die Deutschen abzubauen. Dazu beigetragen hätten die Treffen der letzten Jahre. An Bechars Vater, Kurt Crohn, erinnerte sich Sally Schaul Moddel, der in einen Kibbuz in Palästina Sozialismus ausprobiert hatte: »Ich verdanke Crohn mein Leben. Er hat mich mit einem letzten Kindertransport rausgeschickt.« Gleiches gilt für Leslie Brent Baruch und Salomon Muller, die beide nach England gelangten. Unglaublich, aber wahr ist die Geschichte von Günther Goldbarth, den Quäker in Holland versteckten. Dass er nach einer Razzia nicht nach Mauthausen deportiert wurde, verdankte der heute in Kanada Lebende Klaus Barbie, dem »Henker von Lyon«, der ihn nach einer Notlüge gehen ließ. Ebenso wundersam das Überleben von Walter Frankenstein: mit Frau und zwei Söhnen in der Höhle des Löwen, im Berliner Untergrund.

In einer von Hermann Simon, Direktor des Centrum Judaicum in Berlin, geleiteten Podiumsdiskussion kritisierte Brent israelische Gewaltpolitik, während Renate Bechar auf die Bedrohungen des jüdischen Staates sowie aller Juden in der Welt verwies. Harry Covo aus Tel Aviv betonte: »Wir Juden sind ein Volk wie jedes andere.« Brent ergänzte: »Erst die Nazis haben uns zu Juden gemacht.«

Höhepunkt des Treffens war die Eintragung der Acht in das Goldene Buch von Pankow im Beisein des Bürgermeisters Matthias Köhne. Der Auftakt gebührte Inge Lammel, kein »Zögling«, aber ebenfalls per Kindertransport nach England gerettet. Den Recherchen der Historikerin (»Das Jüdische Waisenhaus in Pankow«, »Verstörte Kindheiten«) ist die Wiedereröffnung des Waisenhauses zu verdanken, das mit viel Liebe von der Cajewitz Stiftung unterhalten wird.