Die letzten Zöglinge

JÜDISCHES LEBEN

Fast auf den Tag genau zehn Jahre nach ihrer ersten Zusammenkunft im ehemaligen Jüdischen Waisenhaus in Berlin-Pankow trafen sie sich wieder, um das Jubiläum zu feiern: einstige Heimbewohner, die mörderischen deutschen Antisemiten in letzter Not entkommen waren. Seit der Wiedereröffnung des Waisenhauses 2001 als Begegnungsstätte (Foto: Archiv) sind sie jedes Jahr nach Berlin gereist, anfangs noch in größerer Schar. Mit Wehmut gedachten die letzten Acht der derweil verstorbenen Freunde.

Renate Bechar, Tochter des letzten, in Auschwitz ermordeten Direktors des Waisenhauses, die selbst mit ihrer Mutter Theresienstadt erlitten hatte, gestand, sie habe lange gebraucht, ihre Bitterkeit gegenüber Deutschland und die Deutschen abzubauen. Dazu beigetragen hätten die Treffen der letzten Jahre. An Bechars Vater, Kurt Crohn, erinnerte sich Sally Schaul Moddel, der in einen Kibbuz in Palästina Sozialismus ausprobiert hatte: »Ich verdanke Crohn mein Leben. Er hat mich mit einem letzten Kindertransport rausgeschickt.« Gleiches gilt für Leslie Brent Baruch und Salomon Muller, die beide nach England gelangten. Unglaublich, aber wahr ist die Geschichte von Günther Goldbarth, den Quäker in Holland versteckten. Dass er nach einer Razzia nicht nach Mauthausen deportiert wurde, verdankte der heute in Kanada Lebende Klaus Barbie, dem »Henker von Lyon«, der ihn nach einer Notlüge gehen ließ. Ebenso wundersam das Überleben von Walter Frankenstein: mit Frau und zwei Söhnen in der Höhle des Löwen, im Berliner Untergrund.

In einer von Hermann Simon, Direktor des Centrum Judaicum in Berlin, geleiteten Podiumsdiskussion kritisierte Brent israelische Gewaltpolitik, während Renate Bechar auf die Bedrohungen des jüdischen Staates sowie aller Juden in der Welt verwies. Harry Covo aus Tel Aviv betonte: »Wir Juden sind ein Volk wie jedes andere.« Brent ergänzte: »Erst die Nazis haben uns zu Juden gemacht.«

Höhepunkt des Treffens war die Eintragung der Acht in das Goldene Buch von Pankow im Beisein des Bürgermeisters Matthias Köhne. Der Auftakt gebührte Inge Lammel, kein »Zögling«, aber ebenfalls per Kindertransport nach England gerettet. Den Recherchen der Historikerin (»Das Jüdische Waisenhaus in Pankow«, »Verstörte Kindheiten«) ist die Wiedereröffnung des Waisenhauses zu verdanken, das mit viel Liebe von der Cajewitz Stiftung unterhalten wird.

#ndbleibt – Aktiv werden und Aktionspaket bestellen
Egal ob Kneipen, Cafés, Festivals oder andere Versammlungsorte – wir wollen sichtbarer werden und alle erreichen, denen unabhängiger Journalismus mit Haltung wichtig ist. Wir haben ein Aktionspaket mit Stickern, Flyern, Plakaten und Buttons zusammengestellt, mit dem du losziehen kannst um selbst für deine Zeitung aktiv zu werden und sie zu unterstützen.
Zum Aktionspaket

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal
Mehr aus: