nd-aktuell.de / 17.11.2011 / Kultur / Seite 16

Stalins linkes Ohr

Leszek Libera erzählt von »Utopek«

Sabine Neubert

In Oberschlesien, wo Jahrhunderte lang deutsche und polnische Kultur aufeinander trafen und 1945 ein paar »freundliche Menschen«, »auf den Fellmützen rote Sterne«, mit ihren Pistolen ein wenig in der Weltgeschichte rumstocherten, liegt die Stadt Razibórz, früher Ratibor. Dort stand einmal ein Piastenschloss, das lag aber 1945 schon in Trümmern, und dort gab es auch einen großen eisernen Eichendorff. Das war der berühmteste deutsche Dichter der Gegend gewesen und hatte den berühmten »Taugenichts« erfunden. Da sich dort auch einige Gewässer wechselnder Namen befanden, sprachen die Deutschen ein sogenanntes »Wasserpolnisch« und erdachten sich ein merkwürdiges Wasser-Algen-Wesen, das sie »Utopek« nannten. Vielleicht in Urzeiten von einem anderen Stern, einem Utopia, gekommen, war dieser Utopek ein Außenseiter, ein Teufel womöglich - ein Taugenichts in jedem Fall.

Der Utopek war also einer, der endlich einmal in einen Roman gehörte. So hat Leszek Libera, der Gegend entstammend, dieses Wasserwesen zu einem kindlichen Simplicissimus, einem Blechtrommler ohne Blechtrommel, gemacht und somit seinen »Weltentwurf in Heimatgeschichte« geschrieben. Wir lernen diesen Simpel mit Namen Buks Molenda in der unmittelbaren Nachkriegszeit kennen. Da mutiert er gerade vom nuckelnden Kleinkind zum werdenden Mann, das heißt er hängt der dicken Zigeunerin Marica, Milch saugend, an der Brust, und in seiner Schule »für Germanen, Idioten und Zigeuner« kriecht er den Mädchen unter die Röcke. Es mutiert überhaupt sehr Vieles in dieser Zeit: Gewaltbereite Männer mit nun polonisierten Namen werden von einstigen Nazis zu Hilfspolizisten mit rotweißer Armbinde, die »Untermenschen« sind bald nicht mehr Zigeuner, sondern Leute aus Podolien, und der Nazi-Bunker wird zur Bonbon- und Schokoladenfabrik. Na ja, es sind gefährliche Zeiten. Die Agnes Ciomperlik geborene Nafta, tritt im Birkenwald auf eine deutsche Tellermine, wenig später fliegt auch die Krowa, die Kuh vom alten Czogalla, in die Luft.

Und weil gefährliche Zeiten sind, singt der prügelnde Lehrer Kaminski mit den Schülern täglich »Noch ist Polen nicht verloren.« Wie erfahren wir das aber alles? Weil Buks am liebsten in seinem alten, leeren Sauerkrautfass sitzt und Geschichten erzählt. Die sind ziemlich derb, drastisch, grotesk, obszön und vielleicht deshalb nicht ganz jedermanns Sache.

Bleibt jedoch die hehre Kunst. Da ist zum einen der dicke Priester, dessen Hobby das Malen ist und der den splitternackten Buks auf der Leinwand in einen pausbäckigen Engel mit Flügeln verwandelt. Was Buks wenigstens einen Schulanzug einbringt. Und dann ist da vor allem der Honigwabenkünstler Erwin Pijawka, ein guter Mensch. Der hat den Auftrag von oben, zwei Wachs-Stalins zu formen. Einmal verliert der kleine Buks bei einer Zirkusnummer sein großes, linkes Fledermausohr. Dafür muss einer der Stalins eins hergeben, was Pijawka dem Jungen gleich anklebt. Aber das bekommt vor allem dem Erwin sehr schlecht.

Leszek Libera: Der Utopek. Roman. Mit einem Nachwort von Jürgen Joachimsthaler. Neisse Verlag. 259 S., brosch., 18 €.