nd-aktuell.de / 30.04.1992 / Sport / Seite 16

Die K & K-Ara ist zu Ende

Im spanischen Linares wurden am Dienstag abend die Halbfinalkämpfe der Anwärter auf das Herausforderungsrecht in der Schach-WM mit Siegen des 26jährigen Engländers Nigel Short über Exweltmeister Anatoli Karpow (Rußland) und des 40jährigen Holländers Jan Timman über den Russen Artur Jussupow mit jeweils 6:4 Punkten beendet. Das Ergebnis ist mehr als eine Überraschung. Denn seit der Weltverband FIDE Ende der vierziger Jahre ein streng geregeltes Auslesesystem mit Zonen-, Interzonen- und Kandidatenturnieren für die Ermittlung des Herausforderers festgelegt hat, gab es noch nie ein Kandidaten-Finale ohne Beteiligung zumindest eines Vertreters der seinerzeitigen UdSSR. Es wird also eine Premiere, wenn vom 7 bis 30. Januar kommenden Jahres wiederum in Linares ein Engländer und ein Holländer den nächsten Herausforderer des Weltmeisters Garri Kasparow ermitteln.

Das Ausscheiden Anatoli Karpows bedeutet das Ende einer Ära in der über hundertjährigen Geschichte des Kampfes um die Krone des königlichen Spiels - der Ära K & K, in der Anatoli Karpow und Garri Kasparow den Titel unter sich ausspielten und kein anderer Anwärter auch nur in die Nähe des Throns gelangte. Es war eine einzigartige Situation im Weltschach: In der Weltrangliste klaffte hinter

der Nummer 1 und 2 eine große und scheinbar konstante Lücke. Dahinter trug „der Rest der Welt“ seine Positionskämpfe um die folgenden Ranglistenplätze aus.

Nicht wenige Experten hielten bis zuletzt an ihrer Meinung fest, daß dies noch lange so bleiben werde. Doch für aufmerksame Beobachter kam die „Wende“ so unerwartet nicht. Vor allem die Fachleute im Lande des Weltmeisters kritisierten seit langem, Karpow arbeite nicht genug, er verlasse sich selbst bei der Vorbereitung auf die WM-Kämpfe zu sehr auf seine Trainer und Sekundanten. (Ohne diplomatische Floskeln gesagt: Er sei faul). Der gleiche Vorwurf wird übrigens seit dem - auf niedrigem Niveau stehenden - WM-Kampf von 1987 in Sevilla auch an Weltmeister Kasparow gerichtet.

Es ist nicht nur im Schach so: Um den Gipfel zu erklimmen, muß ein Sportler unheimlich hart arbeiten, trainieren, studieren. Ist er oben, ist er Weltmeister, hat er alles erreicht, was zu erreichen ist - dann läßt die Motivation nach. Nur: Oben zu bleiben, erfordert ebenso harte Arbeit, wie hinauf zu gelangen. Diese Wahrheit hat Karpow jetzt ereilt. Linares hat nur bestätigt, was sich seit längerem andeutete: Zwischen der Nr. 2 der Weltrangliste und den folgenden Großmeistern gibt es keine Lücke mehr. Das Feld hat Karpow geschluckt. Wie groß indes der Abstand zwi-

schen der Nummer 1, dem Weltmeister, und dem „Rest der Welt“ noch ist, wird sich im Herbst 1993 zeigen, wenn Kasparow in Los Angeles den neuen Herausforderer zum Titelkampf empfängt.

Nigel Short übrigens, der als Knabe zu den „Schach-Wunderkindern“ gehörte, hat im Alter von 14 (!) Jahren angekündigt: „Mit 27 bin ich Weltmeister.“ Rein zeitlich ließe sich diese ungewöhnlich langfristige und unglaublich kühne Planung realisieren. Davor stehen aber noch zwei „kleine“ Hürden: Jan Timman und Garri Kasparow...

Anatoli Karpow hat in Deutschland, insbesondere in den neuen Bundesländern, eine sehr zahlreiche und treue Fan-Gemeinde. Sie wird über das Ergebnis von Linares nicht jubeln. Ich nehme mir die Freiheit, dies zu tun, laut und ungeniert: Fünf Weltmeisterschafts-Matchs K contra K mit 144 Partien (ein unglaublicher Rekord) - das war streckenweise sportliche Spannung, das war, freilich mit abnehmender Tendenz, Bereicherung der Eröffnungstheorie, der Endspielbehandlung, der Strategie und Taktik, der Schachkunst schlechthin - Respekt. Aber es reicht. Endlich ein neues Vis-a-vis für Garri Kasparow, endlich eine neue Handschrift auf dem Weltmeisterschafts-Schachbrett. Halleluja!

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