nd-aktuell.de / 12.08.1993 / Politik / Seite 1

Zwei Drittel in der Festung

Gestern gab s in Bonn eine Sondersitzung des Kabinetts und eine schöne Bescherung. Das Arbeitslosengeld wird gekürzt und die Sozialhilfe bis Mitte 1995 eingefroren. Die drastischen Einschnitte in den Sozialbereich sind der zweite Streich einer ganzen Orgie.

Landauf-, landab war zu hören, daß die faktische Kürzung der Sozialhilfe deshalb notwendig sei, weil die Empfänger sich in der Hängematte räkeln würden. Eine fette Lüge! Denn: In der zweiten Hälfte der 80er Jahr sank die Zahl der arbeitslosen Sozialhilfeempfänger, obwohl die Leistungen erhöht wurden...

Richtig ist hingegen, daß die Bürger bis zur Höhe des Existenzminimums besteuert werden können - das sich am Sozialhilfesatz orientiert. Je niedriger dieser Satz, desto mehr Leute kann man zur Kasse bitten.

Mit „Haushaltkönsolidierung“ hat das alles nichts zu tun. Aufgekündigt wird der Sozialstaatkompromiß. Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Renten und andere Leistungen waren an steigende Löhne und Gehälter aus Erwerbsarbeit gekoppelt. Jetzt passiert Abkopplung. Dieser Staat entledigt sich Schritt für Schritt der Fürsorge für ein Drittel der Gesellschaft.

Schlimm, aber wahr: Das reiche Deutschland schottet sich ab. In der BRD kam von 1975 bis 1991 ein Asylbewerber auf 782 Einwohner. In der Burg entledigt man sich der Armen und Schwachen, schubst sie von den Zinnen. Die Feste „Standort Deutschland“ soll hochgerüstet werden.

Die Koalition baut auf das Zwei-Drittel-Potential der immer Wenigeren, die immer mehr verdienen. Immer mehr werden aus dem Erwerbsarbeitsprozeß geschleudert. Aber auf kulturellem, im sozialem, ökologischem Gebiet gibt es einen ungeheuren Arbeitsbedarf. Wenn die reiche Bundesrepublik nicht in der Lage ist, diese gesellschaftlich notwendige Arbeit zu finanzieren, stellt sich die notwendig die Frage nach einer anderen Gesellschaft.

HELFRIED LIEBSCH