nd-aktuell.de / 06.12.1994 / Politik / Seite 3

Breites Bündnis contra EU-Gipfel

Nach schlechtem Start findet die Gegenveranstaltung nun gute Resonanz Von WOLFGANG KUHR

Fontainebleau, Madrid, Maastricht oder Edinburgh sind als klangvolle Tagungsorte der EU-Regierungschefs vielen noch präsent. Die erlauchte Runde soll nun in Essen tagen - die deutsche EU-Präsidentschaft macht's möglich. Seit rund einem Jahr poliert die Ruhrgebietsstadt ihr Äußeres und ihr Image auf. „Denn wir wollen zeigen, wer wir sind“, sagt Essens Oberbürgermeisterin Anette Jäger selbstbewußt. Zwar empfindet sie eine spürbare finanzielle Last, „aber die sind wir gerne bereit zu tragen“ Aus Gipfel-Erfahrungen ist bekannt, daß die regelmäßigen Mammut-Treffen mit mindestens 30 Millionen DM zu Buche schlagen - und die zahlt Bonn.

Diesmal wird nicht in Schlössern und Prachtbauten, sondern in der städtischen Messe Essen getagt. Für 7,9 Millionen DM wurde ein geplanter Umbau von drei Messehallen vorgezogen, das Land Nordrhein-Westfalen schießt 1,9 Millionen zu. Nichts ist der SPD-regierten Ruhrmetropole zu teuer, um in die Annalen der EU-Geschichte einzugehen. Schließlich soll auf dem diesjährigen Gipfel der Beitritt

Österreichs, Schwedens und Finnland beschlossen werden.

Um sich bereits im Vorfeld richtig ins Bild zu setzen, verbreitet die Stadt Video-Spots, BTX-Infos oder Werbebroschüren, der Aufwand geht in die Millionen. Gleichzeitig wurde der Kulturetat gekürzt und die Jugendarbeit zusammengestrichen - was für Empörung sorgte. Hieraus entstehender Protest verband sich Anfang des Jahres mit Generalkritik an der Sinnhaftigkeit der Glamour-Gipfel des Europas der Konzerne und Banken. Ein „Essener Bündnis“ formulierte „Essener Standpunkte“ zum EU-Gipfel, die in Überlegungen zu einem Gegen-Gipfel mündeten. Um diesen Kraftakt zu realisieren, mußte jedoch die Veranstaltung auf die Bundesund Europaebene erweitert werden. Am 2. Juli gründete sich ein bundesweiter „Koordinationskreis“ von etwa 60 Vertreterinnen und Vertretern aus rund 25 Organisationen und Parteien. Er verabschiedete einen Aufruf und nahm die Organisation des Gegengipfels in Angriff.

Im September schätzte der Koordinierungskreis die Beteiligung am Gegengipfel noch ziemlich pessimistisch ein, im November übertraf die Nachfrage von Medien und interes-

sierten Menschen alle Erwartungen. Giftige Reaktionen gibt es von offizieller Seite gegen den Gegen-Gipfel, die rechte Ruhrgebietspresse sah Gefahren für das Staatschef-Treffen. „Focus“ beschwor gar ein Bündnis von Gysi/Bisky und vermummten Autonomen. Essens Polizeiführung will von geplanten Anschlägen wissen. Nach Gewaltakten während ei-

ner Tschernobyl-Demonstration 1985 auf die RWE-Zentrale mittels Salatkopf-Weitwurf sind die Ordnungshüter jedenfalls hellwach.

Kontaktadresse für die Kampagne gegen den Essener EU-Gipfel: Stadtteilbüro Zeche Carl, Wilhelm-Nieswandt Allee 100, 45326 Essen; Tel.. 0201/8344416.