nd-aktuell.de / 25.04.1995 / Politik / Seite 12

Müssen sich Eltern um Kinder streiten?

Zum Interview von Karin Wenk mit Rechtsanwältin Eike Wernecke im ND vom 13. April

In streitigen Fällen wird das Kind auch als Sache benutzt, um Interessen des mutmaßlichen Sorgeberechtigten durchzusetzen. Hierin spiegelt sich zum einen reaktionäres Eigentümerdenken wider, zum anderen führt es die Frau von einem zukunftsweisenden Weg ab. Das Festhalten an der traditionellen Mutterrolle, die für manche Frauen in der wirtschaftlich schwierigen Situation als Ausweg erscheint, führt nicht zur Gleichberechtigung der Frau wie zur Gleich-

berechtigung der Geschlechter.

Die Reform der Sorgerechtsregelung beruht nach den Vorstellungen der PDS, dem Entwurf der SPD, aber auch nach Verlautbarungen aus dem Justizministerium auf dem Willen, die richtig verstandenen Interessen des Kindes in den Mittelpunkt der Regelung zu stellen. Zugleich soll die Verantwortung beider Elternteile erhalten und erhöht werden, und die wichtigen Beziehungen des Kindes zum anderen Elternteil, zu Naheste-

henden aus seinem Umfeld sollen erhalten und erweitert werden und dies wechselseitig. Das Kind gelangt also nicht in einen „rechtsfreien Raum“ (so im Interview), sondern in ein Beziehungsgefüge vermehrter Verantwortung.

Es stimmt, daß die Zahlen über das gemeinsame Sorgerecht in den einzelnen Bundesländern und Gegenden eine große Schwankungsbreite aufweisen. Es gibt Städte, in denen ein Drittel der Eltern das gemeinsame Sorgerecht be-

vorzugen und erhalten; in anderen Gebieten liegen die Zahlen unter zehn Prozent, aber im Durchschnitt erhalten in vielen Ländern mindestens zehn Prozent der Eltern das gemeinsame Sorgerecht, und es ist ein deutlicher Trend zur Akzeptanz des gemeinsamen Sorgerechts vorhanden.

Es ist schon wahr, daß dieses gemeinsame Sorgerecht von den Eltern abverlangt, ihre persönlichen Konflikte in den Hintergrund zu stellen. Im Interesse ihrer Kinder müssen

die Eltern ein Höchstmaß an Toleranz und Kooperationsbereitschaft entwickeln. Das sind aber Eigenschaften, die auch sonst für das Funktionieren einer Demokratie unerläßlich sind.

Erhebt man den Blick über den Tellerrand Deutschland, bemerkt man, daß in vielen Ländern Europas das gemeinsame Sorgerecht zum Regelfall geworden ist, und in Kalifornien bevorzugen 80% der Eltern das gemeinsame Sorgerecht (wobei der überwiegende Teil der Kinder in der Betreuung der Mutter bleibt).

Dr LINDA ANSORG,