nd-aktuell.de / 16.11.1995 / Berlin / Seite 18

Die Verwaltungsreform ist ins Stocken geraten

Berlins ÖTV-Chef Kurt Lange: „Wir werden nicht jeden Scheiß mitmachen, den Beraterfirmen vorgeben“

Sofern man den Verlautbarungen des Senats Glauben schenkte, gehörte die Berliner Verwaltungsreform zu den vordringlichen Aufgaben der ablaufenden Legislaturperiode. Tatsächlich aber „gab es kaum Initiativen der Politiker, ihre eigene Verwaltung zu reformieren“, kritisierte ÖTV-Chef Kurt Lange am Dienstag. Das Referat Weiterbildung der FU, der DGB-Landesbezirk Berlin-Brandenburg, die ÖTV und die Hans-Böckler-Stiftung hatten zu einer zweitägigen Fachtagung ins DGB-Haus geladen, um in einer kritischen Bestandsaufnahme Chancen und Grenzen der Verwaltungsreform zu diskutieren.

Die Grenzen der Verwaltungsreform, fixierte Kurt Lange, seien für ihn dann überschritten, wenn es öffentliche Dienstleistungen für die Bürger nicht mehr gibt. Was mehr als eine rhetorische Floskel war angesichts zunehmender Begierden, Teile des öffentlichen Dienstes zu privatisieren und den Gesetzen reinen Unternehmertums unterzuordnen. Die Chancen der Verwaltungsreform sah der ÖTV-Landeschef in einer weiteren Produktivitätsentwicklung. Für ihn komme es nunmehr darauf an, „den öffentlichen Dienst für den Wettbewerb mit privaten Anbietern fit zu machen“, stellte Lange klar.

Jürgen Nagel von der zuständigen Senatsverwaltung für Inneres sparte vor rund 100 Teilnehmern nicht mit Eigenlob: „Der Berliner öffentliche Dienst ist gut, kann noch besser und muß vor allem billiger werden!“ Mehr Bürgernähe, Dezentralisierung der Verwaltung, Leistungsanreize und kürzere Entscheidungswege waren weitere Positivsignale, die Nagel ins Auditorium gähnte, ehe er umschrieb, worum es dem Senat vorrangig geht: „Die Verwaltungsreform ist der Versuch, Einsparungen im öffentlichen Dienst so sozial und bürgerfreundlich wie möglich zu gestalten.“ Im Klartext heißt das, weitere 25 000 Stellen zu streichen, einschließlich der Hängepartien aus den vergan-

genen fünf Jahren sogar bis zu 40 000. Kein Pappenstiel, beträfe dies doch jede sechste Stelle im „öffentlichen Dienst am Bürger“ und damit schließlich die Bürger selbst.

Denn, so Kurt Lange, in den zurückliegenden Jahren wurden bereits 19 000 Stellen im Bereich der Bezirksämter, aber lediglich 750 Posten in den Hauptverwaltungen gestrichen. Dabei sei „die politische Führung in Berlin ein Drittel stärker besetzt als in anderen Großstädten - zu viele Senatoren, Staatssekretäre, Referenten“, so der Berliner ÖTV-Vorsitzende.

Obwohl Beratungsfirmen des Senats bald 40 Millionen Mark an Honoraren eingestri-

chen haben werden, sei die Verwaltungsreform ins Stokken geraten. Die angekündigte Qualifizierungsoffensive für die Beschäftigten im öffentlichen Dienst sei kaum aus den Startlöchern gekommen. Zunehmend schwinde unter den Mitarbeitern die Motivation, die Reform aktiv mitzutragen. Auch an den Senatsversprechen, es werde ob der geplanten Länderfusion nur einen sozialverträglichen Stellenabbau geben, sei zu zweifeln. Notfalls sei Kampf angesagt, warb Kurt Lange dafür, den gewerkschaftlichen Organisationsgrad im öffentlichen Dienst zu erhöhen: „Wir werden jedenfalls nicht jeden Scheiß mitmachen, den die Beratungsfirmen vorgeben.“ RAINER BRANDT