nd-aktuell.de / 28.09.1998 / Politik / Seite 11

Das Mädchen hinter dem Mythos

Sabine Neubert

Nun werden sie also doch in die Weltöffentlichkeit gelangen, die fünf Zeilen, die Otto Frank bei der ersten Veröffentlichung des Tagebuches seiner Tochter Anne behutsam und ganz bewußt gestrichen hatte. Wie alles heute ist auch dieses noch immer erschütternde Dokument dem Kommerz unterworfen. Verlage, so die Autorin Melissa Müller, bieten hohe Summen für die Lizenz einer Erstveröffentlichung dieser wenigen Zeilen in einer erweiterten Auflage des Tagebuches. Und sie werden in Kürze diese Lizenz erhalten. In die Biographie ist deren Inhalt aber nur indirekt eingeflossen. Aufgrund einer einstweiligen Verfügung, die der Anne-Frank-Fonds in New York erwirkte, hat die Autorin Melissa Müller das darauf bezogene Kapitel ihres Buches zurückgezogen. Durch die kritischen Zei-

len Annes über das traditionelle Verhältnis ihrer Eltern zueinander gewann sie eine neue Sicht auf die Beziehungen Annes zu ihrer Mutter Die Wiener Journalistin Melissa Müller, die ihre Biographie »Das Mädchen Anne Frank« in der Berliner Literaturhandlung vorstellte, hat sich ganz bewußt auf die Suche nach dem Mädchen hinter dem Mythos gemacht, hat recherchiert, Briefe, Postkarten, Fotos und persönliche Dokumente eingesehen und mit mehr als 20 zum Teil noch nie vorher befragten Zeitzeugen gesprochen.

Melissa Müller las zwei Abschnitte aus der Biographie. Sie berichtet vom Winter 1941 und Frühjahr 1942, als im besetzten Holland die Repressalien gegenüber den Juden verstärkt wurden, Anne durch den Verweis von der Montessori viele ihrer Freundinnen verlor, die Franks durch Musik-, Literatur- und Theaterveranstaltungen weiterhin deutsche klassische

Kultur pflegten und ein einigermaßen »normales« Leben versuchten. Dann kam die Kennzeichnung mit dem Stern durch die Lieferung der gelben Lappen, für die die Juden auch noch zahlen mußten. Im zweiten Abschnitt beschreibt die Autorin eine gelöst hoffnungsvolle Anne im Durchgangslager Westerburg, die, der bedrückenden Enge der Wohnung entkommen, sich lange entbehrter kleiner Dinge erfreut. Aber auch hier in diesem »trostlosen Niemandsland« schwanken die Hoffnungen zwischen Euphorie und Mutlosigkeit. Dann kommt der letzte Zug nach Auschwitz.

Wie schon die Lesung deutlich machte, ist Melissa Müller eine einfühlsame, anschauliche Darstellung der Familiengeschichte und des sensiblen Mädchens Anne gelungen. Gerade in der schlichten Erzählweise wird das Exemplarische für die furchtbaren Verbrechen deutlich. Das rechtfertigt auch die Biographie eines so kurzen Lebens, über die man schon sehr viel wußte. Darüber hinaus wird gerade auch jungen Lesern ein zeitgeschichtliches Bild vermittelt. Daß die Autorin sich dem Veröffentlichungsverbot der »fünf Zeilen« beugte, nimmt dem Buch das Sensationelle, und das kann der Biographie nur guttun.