nd-aktuell.de / 09.10.1998 / Politik / Seite 13

Rache der Stasi?

Erich Buchholz

Die Gauck-Behörde... ist die Fortsetzung der Stasi mit anderen Mitteln«, war Anfang des Jahres im »Tagesspiegel« (18.2.1998) zu lesen. Die Beiträge in diesem »Gauck-Lesebuch« bekräftigen diese Feststellung. Wissenschaftler, Politiker, Künstler, Betroffene und Nicht-Betroffene äußern sich: kritische Geister aus der DDR wie Daniela Dahn, Lothar Bisky, Gregor Gysi, Stefan Heym, Barbara Thalheim, Lothar de Maiziere und Peter Michael Diestel, aber auch Querdenker aus den alten Bundesländern, so Friedhelm Julius Beucher, Hans Peter Bleuel, Henry Düx, Eckart Spoo, Horst Winterstein und Wolfgang Wippermann. Unterschiedliche Erfahrungen mit der Behörde, die täglich 700 000 Mark verschlingt und bisher die Steuerzahler 1,5 Milliarden Mark kostete. Von einer Super-Behörde ist die Rede, geleitet von einem pastoralen »Großinquisitor«, wie Diestel schreibt (S. 64), der selbst »seine Akte« noch rechtzeitig hatte säubern können. Sie verfügt über 3 400 Planstellen; die Zentralstelle Ludwigsburg zur Verfolgung von NS-Verbrechen hat dahingegen gerade mal 25.

Als »Erbin« der schriftlichen Hinterlassenschaften der Stasi tritt die Gauck-

Behörde zwangsläufig in dessen Fußstapfen, weshalb auch das Wort von einer »späten Rache« des MfS umgeht. Daß viele DDR-Bürger neugierig waren, in »ihre« Akten Einsicht nehmen wollten, ist verständlich. Aber wie geht eine Behörde mit dem »geerbten« und zwangsläufig einseitigen Schriftgut um? Welchen Wahrheitswert (S. 233) mißt sie den relativ zufälligen und womöglich selektierten 180 laufende Kilometer messenden »Akten« bei? Vor allem, wenn Auskünfte de facto über das Schicksal von Menschen entscheiden? Wie ist die Rechtslage, wenn Informationen gezielt bestimmten Medien zugespielt werden? Diesen und weiteren Fragen widmet sich das Buch.

Durch die Gauck-Auskünfte seien »mehr Mitbürger aus ihren Lebensbah-> nen gerissen worden als zu echten Stasi-Zeiten«, schreibt Diestel (S. 63). Doch ein archiviertes Schriftstück beweist nach den gerichtlichen Beweisregeln zunächst nichts weiter, als daß eine bestimmte Person einen bestimmten Text geschrieben bzw unterschrieben hat. Wie sich in den entsprechenden Fällen objektive und subjektive Wahrheit zueinander verhalten, darüber geben die Papiere freilich keine Auskunft.

Anders als bei den Aufzeichnungen von Chronisten oder bei Gerichtsakten waren Stasi-Berichte zweck- und adressatenorientiert, vielfach schöngefärbt

und wunschgemäß verfaßt worden. Ironie der Geschichte: Auch heute wird diesen Berichten wieder blindlings geglaubt, werden sie zweckorientiert gedeutet, belastend oder entlastend, wie gerade erwünscht. Willkürlich ist auch das »Verfahren« der Zulassung zur Einsichtnahme, wie Kurt Neumann illustriert (S. 41 f). Keine andere bundesdeutsche Behörde darf ungestraft die im Grundgesetz (Art. 2 Abs.l, Art. 1 Abs.l) verfassungsrechtlich gewährleistete Freiheit und informationelle Selbstbestimmung des Bürgers so offensichtlich verletzen wie die des Herrn Gauck.

Diestel bemerkt, daß die Gauck-Behörde pervertierte, was »wir im heißen Sommer 1990 wollten« (S. 59): Aufklärung und Vergesellschaftung der Stasi-Akten - stattdessen nun eine erneute Verstaatlichung. »Die Gauck-Behörde kann nur im Zwist zwischen den Deutschen existieren. Sie hat ein ureigenes Behördeninteresse am Zwist«, konstatiert Diestel (S. 61). Läßt man die etlichen »Enthüllungen« in den letzten Jahren geistig Revue passieren, so kann dem nur zugestimmt werden.

Abgerundet wird das Buch durch verschiedene »Fallbeispiele« (Gysi, Stolpe, Hermlin, Katharina Witt, Engelmann, Fink, Dehm, Althaus und Heym). Der kritische Leser kann sich sein eigenes Urteil bilden. Das Buch illustriert anschaulich jüngste deutsch-deutsche Geschichte.