nd-aktuell.de / 19.08.2013 / Kultur / Seite 16

Haare auf den Szenen

Blatt für die Sandrock

Hans-Dieter Schütt

Der Knirsch und der Gnatz. Das Ruppige und das Rempelnde. Die Bärbeißigkeit und das Befehlsbarsche. Adele Sandrock herrschte sich durch zahllose Ufa-Filme. Ihre schmalen Lippen glichen den gezackten Eisenfallen böser Tierjäger. Kein Zufall, dass sie oft Schwiegermütter spielte: Die offenste Erscheinungsform der Wahrheit ist das Klischee.

Sandrock, heute vor 150 Jahren in Rotterdam geboren, verkörperte eine Kultur, bei der das Leichte nie in die Minderwertigkeit hinein verunglimpft wurde. Ja, ein geisteskühner Gustaf Gründgens sang Schlager, ein wuchtgenialer Heinrich George tanzte zum Takt der heiteren Muse, ein schwerseelenstarker Emil Jannings desgleichen. Null Häme, wenn der Staatsschauspieler und die klassische Matrone begeistert Hupfdohlen spielten.

Sandrock? Herrlich, was da mitzuteilen ist! Der Vater war Kaufmann und trug den Vornamen - Othello. Von der Theaterphilosophie der »Meininger« war sie so begeistert, dass sie sich Geld borgte, nach Thüringen fuhr, Schillers Luise vorsprach und - in Bann schlug. Sie spielte dann in Moskau, Wien, Budapest. In den Stücken Ibsens und Schnitzlers galt sie als furchtlose Moderne. Wahrscheinlich eine Art Vorform von Sophie Rois. Und im Privatleben die Geliebte von Roda Roda - und Schnitzler. Ab 1905 war sie fünf Jahre bei Max Reinhardt am Deutschen Theater Berlin.

Die Sandrock des Theaters brillierte in großen Rollen der Weltdramatik. Galt als kantig unbeherrscht, als ketzerisch aufgeladen, als kühn energisch. Dann kam der Film und die phänomenale Tyrannei ihrer Komik.

Kürzlich lief am RBB »Kirschen in Nachbars Garten«, eine völlig belanglose Komödie von 1935 (Regie freilich: Erich Engel!). Die Sandrock als blechern trompetendes Frauenaltgewächs, das im gefühlten Alter von siebzig, bajonettscharf im Ton, unnachgiebig darauf besteht, nicht als »Frau Hecht«, sondern als »Fräulein Hecht« angesprochen zu werden. Widerpartnerin von Liesl Karlstadt und Karl Valentin. Mit plötzlicher Zartheit im Grobmuster des Schwanks. Mit plötzlicher Einsamkeitsträne im Panzer-Face der kalten komischen Alten.

Adele Sandrock, die 1937 in Berlin starb: Schauspielerin, also beruflich im Vergessen beheimatet. Wer kennt sie heute noch? Jeder zumindest, der Montagabend im DDR-Fernsehen alte Ufa-Filme schaute und also des Staates Zugeständnis genoss: Das kulturelle Gedächtnis der DDR-Bevölkerung begann nicht erst nach 1945. Willi Schwabe legte mittwochs mit seiner »Rumpelkammer« nach: Auch finstere Zeiten sind Überlebenszeiten der Unterhaltung. Hoppla, wir leben noch! - nicht die schlechteste Feststellung, allzeit.

Adele Sandrock war eine Inge Meysel mit Solingenklinge im Anschlag. Sie war eine Miss Marple mit Generalsausbildung. Sie war eine Große. Kurz und preisend gesagt: Sie hatte Haare auf den Szenen.