nd-aktuell.de / 31.12.2013 / Politik / Seite 2

Kein Neujahrsfest in Wolgograd

Ermittler vermuten Terroristen im Nordkaukasus und unter Russen, die zum Islam übergingen

Irina Wolkowa, Moskau
Von zwei Terroranschlägen in nur 20 Stunden wurde nicht nur das südrussische Wolgograd erschüttert. Die Stadt, die lange Stalingrad hieß, liegt nur 700 Kilometer von Sotschi entfernt, dem Gastgeber der Olympischen Winterspiele am Schwarzen Meer. Besorgte Blicke richten sich wieder einmal auf die Unruheregion Kaukasus. Die Opferzahlen der Anschläge von Wolgograd drohten am Montag weiter zu steigen. Während Menschen um ihr Leben kämpften, lief die fieberhafte Suche nach Tätern und Motiven.

14 Menschen starben, weitere 28 wurden verletzt, die meisten schwer, darunter ein Baby und eine schwangere Frau. Das war die Schreckensbilanz des Anschlags auf einen Trolleybus am Montagmorgen gegen 8.30 Uhr Ortszeit im südrussischen Wolgograd. Die Opferzahlen könnten noch steigen, sagte der Sprecher des Gesundheitsministeriums dem staatlichen Nachrichtenkanal Rossija 24. Der Zustand mehrerer Verwundeter sei »kritisch« oder sogar »sehr kritisch«.

Der Trolleybus flog keine 24 Stunden nach dem Anschlag auf den Hauptbahnhof der Heldenstadt in die Luft, bei dem am Sonntag 17 Menschen getötet und 40 weitere verletzt worden waren. Bei dem Anschlag auf den Bus kamen nach bisherigen Erkenntnissen vier Kilo Sprengstoff zum Einsatz, auf dem Bahnhof über zehn. Die Empfangshalle wurde zum Trümmerfeld, in dem Hunde nach weiteren Zündsätzen suchten. Züge können erst in ein paar Tagen wieder abgefertigt werden.

Im Auftrag Präsident Wladimir Putins leitet Inland-Geheimdienstchef Alexander Bortnikow die Ermittlungen am Tatort. Auch Vizeministerpräsidentin Olga Golodjez und Gesundheitsministerin Veronika Skworzowa trafen dort ein und koordinieren die Hilfe für Opfer und Hinterbliebene. Der Gouverneur hat eine dreitägige Trauer angeordnet und ersuchte Behörden und Unternehmen schon nach dem ersten Anschlag am Sonntag, auf die traditionellen Feiern zum Jahreswechsel zu verzichten.

Den Einwohnern der Millionenstadt ist ohnehin nicht nach Feiern zumute. Vor rund zwei Monaten war in der Region Wolgograd bereits eine Autobombe gezündet worden und eine weitere am Freitag in Pjatigorsk. Drei Menschen starben. Pjatigorsk liegt im Nordkaukasus-Vorland, ist etwa 500 Kilometer von Wolgograd und nur 270 Kilometer von Sotschi entfernt, wo im Februar die Olympischen Winterspiele stattfinden. Die Sicherheitsmaßnahmen, die dort zum 7. Januar in Kraft treten, seien ausreichend, versicherte der Chef des Nationalen Olympischen Komitees, Alexander Schukow, der Nachrichtenagentur RIA/Nowosti. Zusätzliche Vorkehrungen seien auch nach den Anschlägen in Wolgograd nicht geplant.

Bei der Ursachenforschung tappen die Ermittler noch immer weitgehend im Dunkeln. Bei dem Anschlag auf den Bahnhof war zunächst von einer Selbstmordattentäterin aus dem Nordkaukasus die Rede, dann von einem jüngeren Mann mit Vornamen Pawel und »slawischem Aussehen«. Den Sprengsatz im Bus soll ein Mann von gleicher Erscheinung gezündet haben.

Zum Islam konvertierte Russen spielten bei Terroranschlägen schon öfter eine prominente Rolle und gelten als besondere fanatisch. Der Islam lässt Vergeltung im Unterschied zum Christentum durchaus zu und sei daher attraktiv für Menschen, die durch persönliches Unglück aus der Bahn geworfen wurden. Das gelte vor allem, wenn es sich um junge, noch nicht gefestigte Persönlichkeiten oder um psychisch Labile handelt, glauben kritische Soziologen.

Rache könnte die Täter durchaus getrieben haben. Sogar ein unmittelbarer Anlass wäre gegeben: eine größere Sonderoperation von Geheimdiensten und Innenministerium vergangene Woche in der Region Stawropol im nordöstlichen Vorland des Kaukasus und in der angrenzenden, traditionell unruhigen multiethnischen Republik Dagestan. Dort haben sich islamische Extremisten nach der Befriedung Tschetscheniens häuslich eingerichtet. Bei den Kämpfen der letzten Tage gab es auf Seiten der Extremisten Tote und zahlreiche Festnahmen.

Dumpf mit Vergeltung droht die Guerilla schon seit dem offiziellen Ende des Tschetschenienkrieges vor rund zehn Jahren. Hoffnungslos zerstritten und von den Kämpfen ausgeblutet, waren die Gruppen in der letzten Zeit aber nur zu sehr begrenzten Aktivitäten in der Lage.

Jetzt aber sind die Kinder, die 1994 zur Welt kamen, als die Kampfhandlungen in Tschetschenien begannen, zwischen 18 und 19 Jahre alt. Jungen gelten im Nordkaukasus spätestens mit 16 Jahren als waffenfähig. Auch deshalb fürchten kritische Beobachter aus der Region, Moskau könnte die Anschläge von Wolgograd gleich nach Sotschi zum Anlass für einen neuen Waffengang im Kaukasus nehmen.