nd-aktuell.de / 04.09.2014 / Politik / Seite 14

Der Weingarten ist ganz anders

Audioguide soll Klischees über ein Freiburger Viertel korrigieren, das als Problemzone gilt

Sebastian Stoll, Freiburg
Der Weingarten gilt für viele Freiburger als Problemstadtteil. Die Bewohner sehen das anders, werben für ihr Quartier: mit dem Audioguide Weingarten, einer eigens organisierten Spezial-Stadtführung.

An die abschätzigen Blicke hat Irene Läuger sich längst gewöhnt: Sie kommen immer dann, wenn sie sagt, sie lebe im Weingarten. Die Menschen denken dann an Arbeitslosigkeit und Armut. Das Projekt Audioguide Weingarten will das ändern und stellt die Vorzüge des Wohnareals in den Vordergrund. Der Audioguide ist mit dem Preis »Soziale Stadt« ausgezeichnet worden, den Bund, Arbeiterwohlfahrt und mehrere Verbände der Städtebauförderung gemeinsam ausgelobt hatten.

Irene Läuger ist 71, seit Mitte der 1960er Jahre lebt sie im Weingarten. Sie war eine der ersten, die herkam, zog hier drei Kinder groß. Es ist ihre Heimat. »Die Leute wissen einfach nicht, wie es hier wirklich ist.« Alles sei grün, voller Spielplätze, und es seien immer Menschen auf der Straße: »Hier hilft und kennt man sich.«

Damit die Menschen die Vorzüge des Areals besser begreifen können, erzählt ihnen Läuger gemeinsam mit etwa 30 weiteren Bewohnern vom Weingarten. Wer wissen will, wie die hiesige Sintisiedlung entstand, wie viele Menschen aus wie vielen Nationen hier versammelt sind oder auch, wie die Menschen einst an der Kegelbahn gemeinsam feierten, der kann sich das anhören: Gebraucht wird nur ein MP3-Player oder ein Smartphone. Dann lotst die moderne Technik den Besucher mit Geschichten und Anekdoten durch den Stadtteil.

»Die Klischees über den Weingarten sind sehr stabil. Uns ging es darum, auch andere Stimmen hörbar zu machen«, sagt Anna Trautwein vom alternativen Radioprojekt Radio Dreyeckland, die den Audioguide initiiert hat. Sie hat sich mit Menschen aus Eritrea getroffen, Menschen aus Frankreich und aus Deutschland - und jeden eine Stunde lang davon erzählen lassen, wie es ist, eng zusammenzuleben mit Menschen, die so anders zu sein scheinen.

»Es ging viel über Zugehörigkeit, über Freundschaften - und darum, das Bild richtigzustellen. Es hat für viele Menschen etwas Entwürdigendes, wenn der Ort, an dem sie leben, immer wieder falsch dargestellt wird«, sagt sie. Aus den Interviews haben Trautwein und ihre Kollegen kleine Audio-Kollagen erstellt und diese neun Stationen zugeordnet. Wer wissen will, was den Menschen dazu einfällt, kann sich den Audioguide im Internet herunterladen oder einfach mit einem Smartphone einen der an Wänden oder Masten im Viertel verteilten QR-Codes scannen.

Ausgezeichnet wurde der Audioguide für »sein Engagement zur Stabilisierung von Nachbarschaften«. Darum geht es bei dem Preis »Soziale Stadt«, der Teil der gleichnamigen Städtebauförderung ist. Bund und Länder stellen dafür seit 1999 Geld bereit, etwa damit ärmliche Wohnquartiere aufgewertet werden. Gleichzeitig soll der Zusammenhalt unter den Menschen gestärkt werden.

150 Millionen Euro steuert allein der Bund in diesem Jahr für Dutzende Projekte zu, das ist viermal so viel wie noch 2013. Der in Berlin vergebene Preis selbst ist undotiert und soll vor allem vorbildliche Projekte bekannt machen. Ausgezeichnet wurden neben dem Audioguide Weingarten neun weitere Initiativen, die alle das Zusammenleben von Menschen in einem Stadtquartier in den Mittelpunkt stellen. So auch die Seniorenbegleitung Dortmund-Hörde, bei der etwa hundert Schüler dazu ausgebildet wurden, mit älteren Menschen spazieren zu gehen, mit ihnen einzukaufen, zu lesen und zu singen. All das geschieht außerhalb der Schule und freiwillig.

Dass man aus Leerstand und Brachen auch etwas Schönes machen kann, zeigt das Projekt »Freiraumgalerie - Stadt als Leinwand« in Halle an der Saale: Im Stadtteil Freiimfelde färben Graffiti graue Mauern bunt - und auf den Brachflächen siedeln nun Künstler und Kreative in enger Nachbarschaft zu den alteingesessenen Bewohnern.

Irene Läuger findet, dass der Weingarten alles hat, was man zum Glücklichsein braucht. Das Problem des Viertels sei allein sein Image: »Wenn man mich fragt, flüstere ich nicht verschämt: ›Ich komme aus dem Weingarten‹, sondern ich sage es laut und deutlich. Wenn das alle so machen würden, das würde eine Menge bewirken.« epd/nd