nd-aktuell.de / 26.01.2015 / Kultur / Seite 16

Wahrheiten, die niemand hören will

Delphine Coulin beschreibt die Odyssee eines Flüchtlings

Friedemann Kluge

Die Geschichte ist von bedrückender Alltäglichkeit. Zwar siedelt Delphine Coulin sie rein äußerlich in Paris an, aber dieses Paris ist mittlerweile überall dort, wo die eine Mauer - der «antikapitalistische Schutzwall» - fiel, um einer anderen - dem «antipauperistischen Schutzwall» - Platz zu machen, denn: «Geiz ist geil!» Dieser Ungeist grassiert in Paris ebenso wie an anderen Orten.

Empathie ist in unserer Gesellschaft nicht mehr gefragt. Das bekommt der Malinese Samba Cissé, der neun beschwerliche, gar lebensgefährliche Fluchtversuche brauchte, um endlich im vermeintlich «gelobten Land» anzukommen, tagtäglich zu spüren. Nein, das sind nun wahrlich keine Vergnügungsreisen, die da von Afrika aus in Richtung Europa unternommen werden - auch wenn die «Wir-geben-nichts‹-Fraktion das gern so kolportiert.

Samba kommt bei einem Onkel unter, den ein unausdenkbar brutales Schicksal ebenfalls nach Paris verschlagen hat, wo er in einem erbärmlichen Kellerloch zu hausen gezwungen ist. Und ein Leben lang davon träumt, dass alles irgendwann einmal besser wird, auch in Mali, und dass man dann wieder heimkehren könne. Aber nichts wird besser. Samba, der in Mali sein Abitur gemacht hat und perfekt Französisch spricht, wird von der Arbeitsvermittlung wie ein Schwachsinniger behandelt und bekommt, wenn überhaupt (und auch dann nur »schwarz«), die niedrigsten, dreckigsten Arbeiten, die zu verrichten der Europäer sich längst zu fein ist. »Offiziell nicht geduldet, inoffiziell jedoch eingestellt, lieferten sie dem Land ein leicht verfügbares, zahlreiches, unterbezahltes Heer von Arbeitskräften, das für das Wohl der nationalen Wirtschaft nötig war.«

Und bei alledem droht ihm und seinen Schicksalsgenossen jederzeit die Abschiebung. Die Begleitmusik dazu spielen die behördlichen Schikanen, die polizeilichen Razzien, der Hochmut der Etablierten. Vor diesem Hintergrund verirrt sich Samba auch noch in einer problematischen Liebesgeschichte mit dramatischem Ausgang: »Man würde ihn für schuldig erklären, aber der wahre Schuldige, das waren die Kälte, der Alkohol, die Angst, die Bullen ...«

Es ist in diesem Europa - einheitlich - dafür gesorgt, dass, wer unten ist, auch unten bleibt: Asylbewerber, Arbeitslose, Armutsrentner usw. Davon legt dieses Buch ein ebenso beklemmendes wie zorniges Zeugnis ab. Und es sind auch genau diese Gruppen, die sich wenigstens im Kleinen untereinander solidarisieren, einander helfen, dort Empathie zeigen, wo das Establishment es vorzieht, gegen die durchaus unfreiwilligen Zuwanderer kostspielige Demonstrationen zu organisieren.

Ein Buch mit vielen Wahrheiten, die niemand hören will. Coulins Roman wurde inzwischen verfilmt und wird ab Ende Februar unter dem Titel »Heute bin ich Samba« in den deutschen Kinos gezeigt.

Delphine Coulin: Samba für Frankreich. Roman. Aus dem Französischen von Waltraud Schwarze. Aufbau-Verlag. 268 S., geb., 16,95 €.