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Die großartige Exil-Community am Pazifik
Martin Mittelmeier erklärt, wie die »Dialektik der Aufklärung« zum Jahrhundertbuch wurde
Der Versuch muss wohl als gescheitert angesehen werden. Jener Versuch, den Theodor W. Adorno und Max Horkheimer im Jahre 1944 im kalifornischen Exil mit den Essays unter dem Arbeitstitel »Philosophische Fragmente« unternahmen. Diese avancierten, überschrieben als »Dialektik der Aufklärung«, zu einem Jahrhundertbuch, gelten als grundlegende und meistrezipierte Werke der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule. Und ihnen nun widmet Martin Mittelmeier sein vielschichtigen Buch »Freiheit und Finsternis«.
Der Autor unterrichtet am Institut für deutsche Sprache und Literatur an der Universität zu Köln. Er erzählt, unter welchen Rahmen- und Randbedingungen Adorno und Horkheimer die Essays schrieben, mit wem sie während dieser Zeit in Kalifornien und auch in New York zusammenkamen, vor allem, was sie eigentlich vorhatten und womit sie - wohl den Umständen der Entstehung der Essays geschuldet und vielleicht auch dem zu groß gewählten Ansatz - nicht zu Ende kamen. Angesichts der Gewissheit über die Exzesse des Holocaust wollten sie ermitteln, wie es zu diesen ungeheuren, unfassbaren Verbrechen kommen konnte und wie dadurch die Erkenntnis entstehen konnte: Nie wieder!
Mittelmeier überlässt das Urteil über die philosophischen Gedankengänge der »Dialektik der Aufklärung« anderen. Er selbst findet die Ableitungen schwer nachzuvollziehen, rühmt aber das Sprachkunstwerk, das entstanden sei. Ein Widerspruch? Nein!
Die Anlage der sich aus den jeweiligen Arbeitsprozessen der beiden Häupter der Frankfurter Schule ergebenden Essays erscheint nicht auf den ersten Blick einleuchtend. Die fünf Essays behandeln den Begriff der Aufklärung, Odysseus oder Mythos und Aufklärung, Juliette (de Sade), Nietzsche und Kant, Aufklärung und Moral, Kulturindustrie und Aufklärung als Massenbetrug sowie Elemente des Antisemitismus.
Die »Dialektik der Aufklärung« ist ein Gemeinschaftswerk der beiden Autoren. Mittelmeier gelingt es, dieses gemeinschaftliche Arbeiten anschaulich und nachvollziehbar im Kontext der Exilsituation in Los Angeles zu erzählen. Dabei kommen Phasen der Konzentration wie solche der Ablenkung zur Sprache zur Sprache, die Notwendigkeit, für das von Horkheimer geführte Institut Geld einzutreiben, aber auch die Amouren von Adorno und die Eifersüchteleien unter Kollegen.
Mittelmeier geht detailliert und stringent die fünf Essays durch und benennt die Einflüsse von Max Weber oder Walter Benjamin auf diese. Des Letzteren knappe geschichtsphilosophische Thesen hatte Hannah Arendt bei ihrer Flucht aus Europa vor den Nazis mit nach New York gebracht. Sie standen Horkheimer und Adorno dadurch inspirierend zur Verfügung. Wie wenig Arendt von Adorno hielt, ist allerdings wohl kein Geheimnis.
Mittelmeier beschreibt die Veröffentlichungsgeschichte der »Dialektik der Aufklärung«, die einer Geburtstagsgabe für den Mitarbeiter Friedrich Pollock entsprang, Ökonom und Soziologe, Mitbegründer des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt am Main, als dessen Geschäftsführer und Finanzverwalter er jahrzehntelang tätig war - vom Druck beim Amsterdamer Querido-Verlag in kleiner Auflage bis zu den Raubdrucken im Zuge der Umbrüche von 1968 und den danach offiziell erscheinenden Editionen.
Die Leser erfahren auch, welche Anpassungen die Autoren im Vokabular vornahmen, um in Zeiten des Kalten Krieges nicht zu »marxistisch« zu klingen, was ihnen mehr als Ungemach eingebracht hätte. Die Zugeständnisse an weiterhin notwendige Geldgeber und auch im Zuge der geplanten Wiederintegration des Instituts in die Frankfurter Universität verstörten die 68er, weisen aber auch auf eine Dialektik hin, die der Produktion philosophischer Thesen unter den Bedingungen von Geldnot und einer solchen Thesen abholden politischen Großwetterlage immanent ist.
Mittelmeier gelingt es, das alles in einer gut gelaunten Sprache darzustellen und nachzuzeichnen, in einer Art, die sich weder in Wissenschaftlichkeit noch im Anekdotischen verliert, sondern beides leserfreundlich miteinander vereint. Er blättert das »Jahrhundertbuch« von Horkheimer und Adorno auf, dessen Entstehungsgeschichte sich auch als Teil der deutschen Exilgeschichte liest. Das Dropping mit Namen wie Charles Chaplin, Thomas Mann, Bertolt Brecht, Arnold Schönberg und anderen setzt der Autor nicht in der Absicht ein, sein Publikum zu beeindrucken - es folgt seinem Hauptanliegen und zeigt, wie grandios die erzwungene deutsche Exil-Community am Pazifik war.
Martin Mittelmeier: Freiheit und Finsternis. Wie die »Dialektik der Aufklärung« zum Jahrhundertbuch wurde. Siedler, 328 S., geb., 24 €.
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