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Wenn überall Gewalt ist
Belgrad in den 90er Jahren: Alles zerfällt, alles müsste geändert werden, doch niemand kümmert sich. Deshalb schickt Barbi Marković drei Jugendliche auf eine Zeitreise
Diese Zeit soll nie wieder zurückkommen: die 90er Jahre in Belgrad. Das ist die Nachricht, die Barbi Marković den Leserinnen und Lesern ihres jüngsten Romans »Die verschissene Zeit« in die Seiten geschrieben hat. Denn auf diese Periode des Zusammenbruchs, des Krieges und der Verrohung schauen einige heutzutage mit einer sentimentalen Nostalgie. Deswegen werden die Ich-Erzählerin Vanja, deren Bruder Marko und die gemeinsame Freundin Kasandra von der in Wien lebenden Autorin auf eine Zeitreise geschickt, die zwischen punkiger No-Future-Attitüde und Roadmovie durch die Milošević-Jahre oszilliert. Schauplatz des Ganzen ist der Belgrader Stadtteil Banovo brdo, in dem die Jugendlichen aufgewachsen sind und in dem sie sterben werden, wenn sie nicht den Absprung schaffen.
Barbi Marković lässt kein gutes Haar an den Allneunzigern, auch wenn das, was danach kam, nicht unbedingt besser war. Die Katastrophe des Zerfalls Jugoslawiens und aller damit verbundenen Ideen und Ideale hat zur Erosion gesellschaftlicher Werte geführt. Es setzt sich der Stärkere durch und drückt die Schwächeren nach unten - notfalls mit Gewalt. Erstere tragen meist teure Markenklamotten, trainieren ihre Körper und drehen krumme Dinger. Der Prototyp ist der sogenannte Diesler, benannt nach der damals populären italienischen Jeansmarke. Dazu hämmert Turbofolk, jenes regionale Musikgenre aus treibend bassigen Beats und herzschmerzschnulzigen Texten. Um die Lesenden ganz in diese Zeit eintauchen zu lassen, hat Barbi Marković mit Hilfe von Thomas Brandstetter dem Roman das passende Rollenspiel mitgegeben. Wer so was mag, kann bestimmt Freude daran finden.
Die drei Protagonisten stehen nicht auf der Gewinnerseite. Vanja und Marko haben familiär bedingt mit einem tyrannischen Vater und fehlender Anerkennung zu kämpfen. Zudem sind sie das, was man als Außenseiter bezeichnen könnte. Cool ist dagegen Kasandra, die schimpfen kann wie die Kesselflicker - die in Belgrad geborene und aufgewachsene Marković gibt den Lesenden einen umfassenden Einblick ins Fluchen, ein wichtiger Teil der serbischen Sprachwelt. Dass Kasandra trotz ihrer Unerschrockenheit mit Vanja und Marko abhängt, ist dem Umstand geschuldet, dass sie aus einer Romafamilie kommt; Aufstieg ausgeschlossen.
Eines Tages im Jahr 1995 werden die drei von zwei in der Nachbarschaft lebenden kriminellen Brüdern dazu angestiftet, bei einer bekannten Sängerin ein Amulett zu stehlen. Dieses soll magische Kräfte haben: Wer es um den Hals hängen hat, hat die Macht, doch erlebt seinen nächsten Geburtstag nicht mehr. Besser lassen sich die Allneunziger wohl auch nicht zusammenfassen. Um das zu beweisen, gibt es eine Zeitmaschine, die just in dem Moment anspringt, als zum Amulettraub angesetzt wird. Und schon sind die drei im Jahr 1999, während des Nato-Bombardements von Belgrad.
Neues Jahr, nichts ist besser. Doch erfahren die Freunde - nach einem Moment der Verwunderung über die körperliche Weiterentwicklung bei gleichbleibendem Stand des Bewusstseins -, dass Miomir, der Mann der Sängerin, hinter der Zeitmaschine steckt. Der hat eine eigene Agenda. Er hängt an Jugoslawien und will in die 60er Jahre zurück, um die damals einsetzenden Fehlentwicklungen im Arbeitersozialismus aufzuhalten. Vanjas Clique erfährt davon vorerst noch nicht, stattdessen werden sie von dem freundlichen älteren Herrn dazu angehalten, ihm dabei zu helfen, die Zeitmaschine zu korrigieren, indem sie ikonische Gegenstände der Allneunziger einsammeln.
Diese Art Schnitzeljagd bietet den Rahmen der darauffolgenden Abenteuer. Dreimal kommt die Zeitmaschine noch zum Einsatz: zurück nach 1993, dann 1996, wo alles seinen Höhenpunkt findet, und schließlich 2001 als Endstation. Alles, was in den Episoden passiert, hat - räumlich begrenzt auf die Hochhäuser von Banovo brdo - Auswirkungen auf die Jahre danach. So ist Geschichte, nur dass die diesmal ein Spielball von Jugendlichen ist, die manche Entwicklung verhindern und eigentlich ganz rauswollen.
Erfrischend launig ist der literarische Sound von Barbi Marković, mit der eine Atmosphäre eingefangen wird, in der man nicht gefangen sein will. Konsequent benutzt die mit lakonischem Witz ausgestattete Ich-Erzählerin die zweite Person Einzahl, um im selbstironischen Ton über sich zu sprechen und durch den Plot zu lenken. Doch wo die Sprache überzeugt, da fällt die arg konstruierte Handlung ab. Die Pointe der Geschichte - der Kampf um ein Amulett mit dem Logo von Lacoste - geht in einem Gewimmel aus Zeitsprüngen unter, deren Zweck wohl darin besteht, möglichst viele Etappen der 90er bekannt zu machen. Dahinter steht das dick mit Neonfarbe unterstrichene Anliegen: Lernt daraus, denn die Allneunziger dürfen sich nicht wiederholen. Das wäre dank der sprachlichen Qualität auch ohne Marker rübergekommen.
Barbi Marković: Die verschissene Zeit. Residenz-Verlag, 230 S., br., 24 €.
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