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EU-Luftaufklärung für Libyen
Frontex überlässt Küstenwache aus Tripolis die »Drecksarbeit«
Die Europäische Union hat Schiffe aus dem zentralen Mittelmeer abgezogen und investiert stattdessen in die Überwachung aus der Luft. Geflüchtete, die auf dem Weg nach Europa in Seenot geraten, werden auf diese Weise immer seltener in sichere Häfen in Italien oder Malta gebracht. Um sich deshalb keinen Vorwürfen ausgesetzt zu sehen, lässt Brüssel diese »Drecksarbeit« durch libysche Akteure erledigen.
Das ist das Ergebnis eines neuen Berichts, den Human Rights Watch und Border Forensics am Montag veröffentlichten. Dabei handelt es sich um Menschenrechtsverletzungen, sagt Giovanna Reder von Border Forensics dem »nd« und nennt die Frontex-Luftüberwachung eine »Zurückweisung durch Stellvertreter«.
Für ihre Datenanalyse haben Human Rights Watch und Border Forensics die Flugpfade der Frontex-Luftaufklärung ausgewertet und mit anderen, frei zugänglichen Daten verglichen. Weitere Informationen stammten vom Verein Sea-Watch und vom Alarm Phone, das Notrufe im Mittelmeer an die zuständigen Behörden weiterleitet und die Einsätze dokumentiert.
Frontex hat den Aktionsradius ihrer Mission »Themis« von 70 auf 24 Seemeilen vor der italienischen Küste begrenzt. Gleichzeitig hat die Agentur allein im vergangenen Jahr sechs eigene Luftfahrzeuge eingesetzt. Im gleichen Jahr hat die libysche Küstenwache, die zum Militär gehört, 32 400 Menschen auf hoher See zurückgeholt – gegenüber 2020 hat sich diese Zahl beinahe verdreifacht. Fast ein Drittel dieser Aufgriffe soll Frontex mit ihrer Luftüberwachung unterstützt haben. Bis November 2022 wurden daraufhin mehr als 20 700 Menschen nach Libyen zurückgebracht.
Die Anwesenheit von Flugzeugen der Grenzagentur zeige keine nennenswerte Auswirkung auf die Todesrate auf See, heißt es in dem Bericht. »Sie machen das Meer also nicht sicherer«, sagt Giovanna Reder von Border Forensics. »Im Gegensatz dazu gab es aber einen statistisch signifikanten Zusammenhang zwischen Frontex-Flügen und der Anzahl an Pullbacks durch die libysche Küstenwache«, so Reder. An Tagen, an denen die Flugzeuge mehr Stunden über ihrem Einsatzgebiet fliegen, fängt die libysche Küstenwache demnach tendenziell mehr Boote ab.
Frontex hat offenbar auch gezielt vermieden, in der Nähe befindliche Schiffe über die Seenotfälle zu informieren. Die beiden Organisationen bezeichnen dies als eine Gesamtstrategie, die gegen das Völkerrecht verstößt. Geflüchtete dürfen nicht in einen Staat gebracht werden, in dem Verfolgung droht.
Brüssel ist sich der Misshandlungen von Migranten in Libyen durchaus bewusst und bestreitet die Beweise nicht, schreiben Human Rights Watch und Border Forensics. Im Juli habe die EU bei den Vereinten Nationen eine Erklärung abgegeben, in der sie die Haftbedingungen in Libyen als »zutiefst alarmierend« bezeichnete. Der amtierende Grundrechtsbeauftragte bei Frontex verweist zudem auf Misshandlungen durch die libysche Küstenwache, das ergab kürzlich eine Anfrage nach dem Informationsfreiheitsgesetz bei der Agentur. Die Truppe hat demnach sogar mehrfach auf Boote mit Geflüchteten auf See geschossen.
Seit letztem Jahr hat Frontex zudem eine Drohne vom Typ »Heron 1« auf dem internationalen Flughafen in Malta stationiert. Den Rahmenvertrag über 50 Millionen Euro erhielt der deutsche Ableger von Airbus in Bremen; die einst für das Militär entwickelte Drohne stammt von einem israelischen Hersteller. Airbus-Techniker sind für alle Flüge inklusive Starts und Landungen verantwortlich und übertragen die aufgenommenen Daten zum Frontex-Hauptquartier in Warschau.
Für ihren Bericht haben Human Rights Watch und Border Forensics Ereignisse vom 30. Juli 2021 rekonstruiert. An diesem Tag hat die libysche Küstenwache mehrere Boote mit möglicherweise Hunderten Geflüchteten auf hoher See gestoppt. Die Drohne soll dabei eine Schlüsselrolle gespielt haben, darauf deuteten auffällige Flugmuster hin.
Keines der vielen anderen Schiffe, die sich in dem Gebiet aufhielten, wurde von Frontex auf die Boote aufmerksam gemacht. Neben zahlreichen Handels- und Versorgungsschiffen befanden sich auch drei Schiffe von Nichtregierungsorganisationen in den internationalen Gewässern vor der libyschen Küste: die vom gleichnamigen Verein betriebene »Sea-Watch 3«, die »Ocean Viking« vom Netzwerk SOS Méditerranée und die »Nadir« von RESQSHIP.
Seit mehreren Jahren investiert die EU in die verstärkte Überwachung der Seegrenzen in Libyen. Italien wurde nach der sogenannten Migrationskrise von 2015 beauftragt, ein maritimes Koordinationszentrum in der Hauptstadt Tripolis zu installieren und eine Seenotrettungszone festzulegen, für die seitdem Libyen allein zuständig sein sollte. Die Ausstattung der Überwachungs- und Kommunikationstechnik stammt unter anderem von der Firma Rohde & Schwarz aus Deutschland.
Die EU-Kommission vergab dazu Gelder in Höhe von 57 Millionen Euro. Konkrete Angaben, auch zum Verbleib der Fördermittel, will das italienische Innenministerium aber geheim halten. Die italienische Journalistin Sara Creta klagt deshalb gegen die Regierung in Rom.
Allerdings läuft es auch aus Brüsseler Sicht nicht rund. In einem Dokument zu dem Vorhaben schreibt die EU-Kommission, die Behandlung von Geflüchteten bei Such- und Rettungsaktionen in Libyen sei verbesserungswürdig, ansonsten würden »das Narrativ und der Ruf der EU weiter beschädigt«.
Eine aus den EU-Mitteln angeblich finanzierte Seenotleitstelle in Tripolis ist jedoch auch nach fünf Jahren EU-Unterstützung »nicht einsatzbereit«, gab der Hohe Vertreter und Vizepräsident der EU-Kommission Joseph Borrell kürzlich in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage zu. Deshalb vergibt die EU jetzt zusätzliche Mittel, um eine solche Leitstelle in verlegbaren Containern unterzubringen.
Neben Frontex patrouilliert auch die EU-Militärmission Irini zur »Schleuserbekämpfung« vor der libyschen Küste. Für die Neuauflage der Mission hatte die damalige italienische Regierung vor zwei Jahren zur Bedingung gemacht, die Routen der Boote mit Geflüchteten aus dem Einsatzgebiet herauszunehmen. Wie Frontex beobachtet Irini dort seitdem auch nur noch aus der Luft.
Vor zwei Wochen hat das in Berlin ansässige Europäische Zentrum für Verfassungs- und Menschenrechte (ECCHR) deshalb gemeinsam mit der Organisation Sea-Watch eine Klage vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag eingereicht. Das Gericht solle die »individuelle strafrechtliche Verantwortung hochrangiger Entscheidungsträger von EU-Mitgliedstaaten und EU-Agenturen« prüfen.
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