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Suizid: Betroffenen helfen statt Absichten fördern
Therapieplätze anstelle von Suizidmedizin: Verbesserung der Prävention ist dem Bundestag wichtiger als Erleichterung der Sterbehilfe
Die Suizidprävention soll in Deutschland gestärkt werden. Diesem Antrag stimmte am Donnerstag mit 693 Abgeordneten eine übergroße Mehrheit zu. Auf diesen Gemeinschaftsantrag hatten sich die Parlamentarier*innen erst am Vortag geeinigt. Die beiden Gesetzentwürfe von fraktionsübergreifenden Gruppen über eine Neuregelung der Suizidhilfe haben die Abgeordneten dagegen mehrheitlich zurückgewiesen.
Nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2020 war eine gesetzliche Neuregelung erforderlich geworden. Das Gericht hatte das gesetzliche Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe von 2015 aufgehoben, weil das allgemeine Persönlichkeitsrecht auch das Recht auf selbstbestimmtes Sterben umfasse und dabei die Hilfe Dritter in Anspruch genommen werden dürfe. Die am Donnerstag diskutierten Gesetzesentwürfe sollten Rechtssicherheit für Ärzt*innen und Angehörige herstellen.
Im Jahr 2021 nahmen sich in Deutschland mehr als 9000 Menschen das Leben. Etwa dreimal mehr Menschen sterben durch Suizid als durch Straßenverkehrsunfälle. Bei Jugendlichen und jungen Menschen zwischen 15 und 29 Jahren ist der Suizid neben Verkehrsunfällen die zweithäufigste Todesursache. Menschen, die an einer psychischen Krankheit leiden, haben ein um 30- bis 50-fach erhöhtes Suizidrisiko, das variiert je nach Erkrankung.
Der Entwurf der Abgeordneten-Gruppe um Lars Castellucci (SPD) und Kirsten Kappert-Gonther (Grüne) erhielt 304 Ja-Stimmen und 363 Ablehnungen. Der Vorschlag der Gruppe wollte die sogenannte geschäftsmäßige Sterbehilfe, die unabhängig von einem etwaigen wirtschaftlichen Interesse auf Wiederholung angelegt ist, erneut verbieten. Ausnahmen sollte es geben, wenn die suizidale Person eine*n Facharzt*in für Psychiatrie und Psychotherapie im Abstand von drei Monaten konsultiert und diese*r bestätigt, dass der Sterbewunsch wirklich eine freie und eigene Entscheidung sei.
Der zweite Gesetzentwurf war erst am Vortag aus zwei Entwürfen zusammengelegt worden. Dennoch erhielt der Vorschlag der Gruppe um Renate Künast (Grüne) und Katrin Helling-Plahr (FDP) nur 287 Ja-Stimmen, 375 Abgeordnete stimmten dagegen. Dieser Entwurf sah keinerlei strafrechtliche Konsequenzen vor, dafür eine informierende Beratung und eine Wartezeit von drei Wochen, bevor Ärzt*innen ein Suizidmittel hätten verschreiben können.
Mehrere Redner*innen wiesen darauf hin, dass es nicht sein könne, dass eine noch aufzubauende Infrastruktur zur Suizidberatung leichter zu erreichen sei als psychotherapeutische Hilfe. Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer von Mitte Juni vergehen etwa fünf Monate zwischen einem Erstgespräch und dem Beginn einer Psychotherapie. Je nach Region oder Erkrankung sind auch Wartelisten von einem Jahr nicht ungewöhnlich.
Anders als sich viele vorstellen, geht es bei den Regelungen zur Suizidhilfe nicht um Sterbebegleitung für alte und schwerstkranke Menschen, sondern um Sterbehilfe für alle Menschen, die nicht mehr leben wollen. Die Abgeordnete der Linkspartei Kathrin Vogler wies in der Debatte darauf hin, dass solche Fragen nicht nur in Hinsicht auf die individuelle Selbstbestimmung diskutiert werden dürfen. Es gehe »auch um die Frage, in welchem Land, in welcher Gesellschaft wir leben wollen«. Vogler forderte ein realistisches Menschen- und Weltbild ein, Krisen und Existenzängste setzten »viele Menschen unter Druck, der wirkt sich auch auf die Seele aus«. Zudem funktionierten auch die Hilfesysteme nicht immer gut: Vogler nannte den Mangel an Pflege- und Betreuungskräften, lange Wartezeiten bei Schuldenberatungen, fehlende Frauenhäuser und Gewaltschutzeinrichtungen sowie »Jobcenter, die allzu oft den Druck noch erhöhen, anstatt die Menschen, die als Erwerbslose zu ihnen kommen, zu stärken«. Das bringe die Menschen an den Rand ihrer Kräfte, und »sehr, sehr viele Menschen denken in solchen Situationen daran, sich das Leben zu nehmen«.
Gegen solche gesellschaftlichen Krisen wird auch ein Präventionsgesetz nicht helfen. Vielen Abgeordneten erschien jedoch offensichtlich ein Ausbau der Hilfsangebote sinnvoller als eine Erleichterung der Selbsttötung. Effektive Präventionsarbeit müsse »der Vielschichtigkeit der Suizidmotive und ihrer Lebensumstände (Adoleszenz, Alter, Perspektivlosigkeit, mangelnde Palliativversorgung) Rechnung tragen«, hält der beschlossene Antrag fest. Die Bundesregierung soll bis Ende Januar des nächsten Jahres ein Konzept vorlegen, wie bestehende Strukturen und Angebote der Suizidprävention unterstützt werden können. Bis Mitte 2024 soll es einen Gesetzentwurf geben, der den »Schwerpunkt auf die Prävention in den Alltagswelten« legt. In dem Antrag werden akute und kurzfristige Hilfen wie Notfalltelefone gefordert oder nachhaltige Mittel, die Menschen vom Suizid abhalten können, wie bauliche Maßnahmen an Brücken oder Hochhäusern. Um das Reden über solche Gedanken zu erleichtern, soll es eine Aufklärungskampagne geben, die der Tabuisierung und Stigmatisierung von Suizidwünschen vorbeugt. Zudem soll die bedarfsgerechte psychotherapeutische, psychiatrische, psychosoziale und palliativmedizinische Versorgung sichergestellt werden.
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Patientenschützer*innen hatten an die Abgeordneten appelliert, beide Gesetzentwürfe zur Neuregelung der Sterbehilfe abzulehnen. »Beide Gesetzentwürfe weisen große Defizite auf«, sagte der Vorstand der Stiftung Patientenschutz, Eugen Brysch. Der freie Wille des Menschen könne nicht durch Pflichtberatungen überprüft werden. Dafür gebe es keine allgemeingültigen Kategorien, der Willkür würden so »Tür und Tor geöffnet«, argumentierte Brysch. Auch der Paritätische Gesamtverband hielt beide interfraktionellen Gesetzentwürfe »für ungeeignet, insbesondere mit Blick auf den dringend erforderlichen Schutz von Personen mit Suizidabsichten vor den privatwirtschaftlichen Profitinteressen Einzelner«.
Nach der Sitzung des Bundestages begrüßte der Präsident der Bundesärztekammer, Dr. Klaus Reinhardt, dass es zu keiner Entscheidung gekommen ist. So bleibe Zeit für die bisher »noch nicht ausreichend geführte gesamtgesellschaftliche Debatte«. Außerdem sei es gut, »den ersten Schritt vor dem zweiten zu tun« und ein »umfassendes Gesetz zur Vorbeugung von Suiziden« zu erlassen, bevor man Suizide erleichtere.
Wann es einen erneuten Anlauf gibt, den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts gerecht zu werden und die Hilfe zum Suizid rechtssicher zu regeln, ist noch völlig unklar.
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