Kottbusser Tor: Angeklagte Opfer von Polizeigewalt freigesprochen

Vier Angeklagte sollen angeblich Widerstand gegen Polizeibeamte geleistet haben

  • Jule Meier
  • Lesedauer: 4 Min.
Am Kottbusser Tor sind nicht nur bei Demonstrationen viele Polizist*innen unterwegs.
Am Kottbusser Tor sind nicht nur bei Demonstrationen viele Polizist*innen unterwegs.

Die kleine Kirchstraße ist voll an diesem Mittwochmorgen vor dem Strafgericht Tiergarten. Bereits eine halbe Stunde vor Prozessbeginn gegen Clara N., Nadine A., Flavio T. und Puya H. versammeln sich dort rund 20 Prozessbegleitende. Bis der Prozess anfängt, werden es doppelt so viele, die dem Aufruf der Opferberatung Reach Out folgen.

N., A., T. und H. sind angeklagt, am 29. April 2023 Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte geleistet und diese tätlich angegriffen zu haben. Dabei sind sie es, die Polizeigewalt erfahren haben, wie die Beweislage im Prozess belegt, die zu ihrem Freispruch führt. Entscheidend für den Freispruch ist, dass es Videomaterial von dem Polizeieinsatz gibt.

Freitagnacht in Kreuzberg. Die Freund*innen N., A. und T. sind nach eigenen Aussagen kurz nach drei Uhr morgens auf dem Weg von einem Club zum Bahnhof Görlitzer Park. Was sie nicht wissen: Bereits auf dem Weg zur U1 werden sie von einem Polizisten in Zivil an einem »kriminalitätsbelasteten Ort« observiert. Der Polizist habe ein »komisches Gefühl« gehabt, wie er vor Gericht aussagt. Das Auftreten des Angeklagten T. habe »ins Schema Taschentrick« gepasst. Ihm sei nicht klar gewesen, ob sich die drei Angeklagten kannten. Darum funkt er seine Kolleg*innen an, dass Trio zu beobachten. Nach seinen Aussagen hätte der Einsatz am Kottbusser Tor enden sollen, sofern T. sich nicht als Dieb herausstellte.

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Was sich dann auf der Fahrt zwischen U-Bahnhof Görlitzer Park bis zum Kottbusser Tor und auf dem Bahnsteig des Kottbusser Tors ereignet, ist auf diversen Videos dokumentiert, die im Gerichtssaal gezeigt werden. Man sieht, wie sich die Freund*innen in der U1 entspannt miteinander unterhalten. In Zivilkleidung sitzt ein Beamter mehrere Meter entfernt von ihnen. An der Haltestelle Kottbusser Tor steigen zwei Polizisten ein, einer zieht T. aus dem Waggon. Laut Aussagen der Freund*innen soll er lediglich »Komm raus« gesagt haben, ohne Angabe von Gründen. Keine 20 Sekunden vergehen zwischen der Aufforderung und dem massiven Eingreifen gegen T. Die U1 wird von der Polizei gestoppt.

N. und A. fragen nach eigenen Angaben mehrfach, warum T. festgehalten wird, und versuchen, die Arme der Beamten von T. zu lösen. Die Situation eskaliert: Sowohl T. als auch A. landen auf dem Boden, jeweils ein Knie eines Beamten im Hals. T. verliert im Laufe des Polizeieingriffs Hose und Schuhe.

Alle drei Freund*innen wehren sich, gegen die Knie in Rücken und Nacken, gegen das Anlegen der Handschellen, gegen das Pressen ihres Kopfes gegen Boden oder Werbetafel. N. wird erkennbar von einem Beamten mit dem Schlagstock bedroht. A. soll von einem Beamten als »Schlampe« beleidigt worden sein. Innerhalb kürzester Zeit sind aus vier Polizist*innen, die einen Mann aus der U1 ziehen, dutzende Beamte geworden, die mit den Freund*innen »beschäftigt« sind, wie es zwei Polizisten vor Gericht beschreiben. Unzählige Passant*innen werden am Einschreiten gehindert. Einer von ihnen ist der Angeklagte H., der mit den anderen Angeklagten in der Gefangensammelstelle landet, weil er sich für das Trio einsetzt.

Von vier geladenen Polizeizeugen verweigern zwei die Aussage. Die anderen zwei widersprechen einander, was die Frage angeht, wer die Entscheidung getroffen hat, dass T. einer Identitätskontrolle unterzogen werden soll. Einer Schuld ist sich keiner der Beamten bewusst. Einer sagt jedoch aus, dass eine Einsatzauswertung »nicht nur positiv« ausgefallen sei.

Es sind Blutergüsse und Schürfwunden, die die vier Angeklagten von der Nacht im April 2023 davontragen. Vor allem aber sind es seelische Wunden, wie fast alle von ihnen in ihrer Stellungnahme berichten. A. sagt, sie habe den »gesellschaftlichen Platz«, den sie sich mit harter Mühe erkämpft habe, in dieser Nacht verloren.

Die Verteidiger*innen sprechen in ihren Plädoyers von Racial Profiling, zwei Anwält*innen widmen ihr Plädoyer dem jüngst verstorbenen Gründer der Opferberatung Reach Out, Biplab Basu. Er hat sich zeitlebens für das Filmen der Polizei eingesetzt. Reach Out fordert, dass Racial Profiling als Grund für die anfängliche Kontrolle von Flavio T. anerkannt wird und die Staatsanwaltschaft die beteiligten Polizeibeamten »wegen Körperverletzung im Amt und sexistischer Beleidigung« anklagt. »Es wurde deutlich, dass hier eine Täter-Opfer-Umkehr erfolgte«, sagte eine Sprecherin »nd«.

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