Polizeigewalt am Kotti: Acht Minuten Horror

Am 29. April 2023 eskaliert ein Polizeieinsatz am U-Bahnhof Kottbusser Tor. Zwei junge Frauen erzählen von der willkürlichen Staatsgewalt

Sie waren tanzen, »megalustig, perfekte Stimmung«, im Privatklub, einem kleinen Veranstaltungsraum in der Skalitzer Straße in Berlin-Kreuzberg. »Psychedelic Cumbia« hieß das Event, erinnert sich C. »Es war alles richtig super«, sagt sie. »Dann wollten wir zusammen nach Hause fahren.« U1 vom Görlitzer Bahnhof bis zum Halleschen Tor, dann U6. Sie laufen zur U-Bahnstation, »für den Weg, der eigentlich fünf Minuten dauert, haben wir zwanzig gebraucht. Wir haben ständig angehalten und F. hat getanzt.«

In der U-Bahn dreht C. ein Video von ihrer Freundin N., die sich mit F. unterhält. »Die beiden waren so süß, ich musste einfach mein Handy zücken. N. hat ihm die fünf Phasen beigebracht, wie er ein bester Freund von uns wird.« Kurz nach diesem Video hält die U-Bahn an der Station Kottbusser Tor, die Türen gehen auf – und Polizist*innen stürmen das Abteil, ergreifen F. und reißen ihn zu Boden.

Es ist die Nacht auf Samstag, den 29. April 2023. Seit dieser Nacht haben C. und N. Angst vor der Polizei.

C. und N. sind 23 Jahre alt, kennen sich aus ihrer Heimatstadt im Norden Deutschlands und sind schon lange befreundet. Fürs Studium sind sie nach Berlin gezogen und haben eine WG gegründet. An einem spätsommerlichen Septembertag sitzen die beiden jungen Frauen in einem Weddinger Café. Eineinhalb Stunden lang erzählen sie ihre Geschichte, über die bisher nur andere berichteten. Wenn der einen die Worte fehlen, ergänzt die andere, mal lachen sie, mal kommen sie ins Stocken. Ihre Namen möchten sie nicht in der Zeitung lesen.

Der weitere Verlauf der Geschichte lässt sich so zusammenfassen: Nachdem F. von Polizisten aus dem Zug gezerrt und zu Boden geworfen wird, folgen C. und N. auf den Bahnsteig. Immer wieder sagen sie laut: »Wir sind Freunde!« Sie wollen verstehen, was los ist. Doch stattdessen erfahren sie Gewalt. Beide werden mehrmals von Polizeibeamten zu Boden gerissen, beleidigt, bedroht, verletzt und schließlich stundenlang festgehalten. Die Begründung der Polizei, die später auch in den Zeitungsberichten stehen wird, lautet: Man habe F., den Freund von N. und C., für einen Taschendieb gehalten. Er sei kontrolliert worden, »um zu überprüfen, ob es seinerseits zu strafbaren Handlungen gegenüber zweier Frauen gekommen war«, sagt ein Polizeisprecher damals gegenüber dem »Tagesspiegel«.

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N. holt tief Luft, bevor sie die Erinnerung hervorkramt an das, was am Gleis der U1 am Kottbusser Tor passiert ist. Als die Beamten F. ergreifen und rückwärts aus der Bahn ziehen, diskutieren die Freundinnen mit den übrigen Polizisten. »Aber die wollten uns die ganze Zeit nicht erklären, was los ist.« Stattdessen kommt Verstärkung, der Bahnsteig füllt sich mit Polizei. Dann liegen N. und C. plötzlich auf dem Boden.

Woran sich N. gut erinnert, ist der Moment, als sie »zum dritten oder vierten Mal« zu Boden gebracht wird. »Ich hatte schon eine Handschelle an der Hand, und der eine Polizist war mit seinem Knie auf meinem Hals, hat meinen Atemweg zugedrückt und mit der Handschelle meine Hand nach hinten gedrückt.« N. schreit nach Hilfe, bis sie kaum noch Luft kriegt.

C. ist in Panik. Sie versucht, so nahe wie möglich bei N. und F. zu bleiben – wenn sie nicht gerade selbst zur Zielscheibe wird. Mehrmals schubst ein Beamter sie gegen eine Werbetafel. Obwohl sie ihre Hände hochhält, um zu signalisieren, dass sie sich nicht wehrt, hält der Polizist ihr seinen Schlagstock unter die Nase. »Das ist echt ein Moment, der mir eingebrannt ist.«

Fünf Monate später fällt es N. und C. schwer, sich das Verhalten der Polizei zu erklären. Sie betonen mehrmals im Gespräch, dass sie sich nicht falsch verhalten haben. Dass sie der Polizei keinen Grund gaben für die Eskalation. Dass es vielmehr einzelne Beamte waren, die gezielt Grenzen überschritten, während die übrigen ihnen dabei zuschauten. Besonders der eine Polizist, der sein Knie auf N.s Nacken stemmt, ist beiden im Kopf geblieben. Er ist es, der F. als Erstes aus der U-Bahn zerrt. Er ist es auch, der N. später als »Schlampe« beleidigt.

Nach etwa acht Minuten werden alle drei in Handschellen abgeführt. N. und C. landen in derselben Wanne und werden dort eine Stunde lang sitzen gelassen. »Es war ein Mix verschiedener Launen«, erinnert sich C. »Mal vor sich hin starren, dann wieder ganz normal sprechen, irgendwann haben wir geweint, dann war ich sauer.« Sie müssen Alkoholtests machen. »Dann hieß es einfach nur, wir müssen auf die Wache für Fingerabdrücke – dann könnt ihr gehen.«

Sie fahren zur Gefangenensammelstelle am Tempelhofer Damm. Dort müssen sie ihre Wertsachen abgeben, die Schuhe ausziehen. Was passiert, versteht N. erst, als sie in der Zelle steht und die Tür zugeht. Sie und C. werden für knapp vier Stunden eingesperrt. »Da ist die Stimmung für mich gekippt«, sagt C.

Während N. sich in eine Ecke setzt und kein Auge zumacht – »ich fand die Zelle so unglaublich widerlich« –, versucht C. zu schlafen und wird schließlich von einem Beamten geweckt, der sie in eine Diskussion über den Polizeieinsatz verwickelt. Es stellt sich heraus, dass er es ist, der als Zivilpolizist F. für einen Taschendieb gehalten hat. C. erzählt, wie der Polizist seinen Verdacht gegen F. rechtfertigt: »Er hat gesagt: So wie der aussah, passte er ins Profil. Oder: Leute, die so aussehen, machen so etwas.«

Regelmäßig berichten Betroffene oder Augenzeug*innen von Racial Profiling rund um Görlitzer Park und Kottbusser Tor. Diese Orte zählen zu Berlins insgesamt sieben »kriminalitätsbelasteten Orten«, kurz kbO. Von der Polizei ausgewiesen, dürfen hier anlasslose Identitätsfeststellungen erfolgen, die Polizei darf also ohne konkrete Anhaltspunkte Menschen kontrollieren und sogar durchsuchen. Seit der Eröffnung der Polizeiwache am Kottbusser Tor im Februar 2023 ist die Zahl dieser Kontrollen sprunghaft gestiegen: Aus einer Antwort auf eine schriftliche Anfrage des Berliner Linke-Abgeordneten Niklas Schrader geht hervor, dass im ersten Halbjahr 2023 mit 1444 Identitätsfeststellungen fast doppelt so viele Kontrollen stattfanden wie in den Halbjahren zuvor.

Die Auswahl der Kontrollierten begründet die Behörde meist mit der »polizeilichen Erfahrung«. Doch diese »Erfahrung« ist geprägt von rassistischen Stereotypen. Wenn die Staatsmacht versucht, Kriminalitätsmuster an Phänotypen festzumachen, muss es zu falschen Verdachten kommen. Wie bei F.

Für N. und C. war die Gewalt klar rassistisch motiviert. »Ich hatte das Gefühl, dass die Polizisten mit mir ein Stück harscher umgehen, dass sie etwas gegen F. und mich hatten«, sagt N. Diese Erfahrung belastet sie zusätzlich. »Das hat noch mal mein Bild davon erschüttert, wie ich mich hier in Deutschland wahrnehme. Das hat mich noch mal fünf, sechs Jahre zurückgeworfen in meiner antirassistischen Entwicklung in Deutschland, um hier meine Position zu finden.«

In den Tagen danach suchen sie Hilfe bei einer Gruppe Schwarzer Studierender, schreiben ein Gedächtnisprotokoll, erstatten Anzeige und dokumentieren ihre Verletzungen: blaue Flecken bei beiden, Kratzer am Hals bei N.

Die Nacht hinterlässt nicht nur körperliche Spuren. N. rutscht in eine depressive Episode, kann nur noch wenigen Menschen vertrauen, hat Angst vor Männern und vor Uniformierten. Auch C. hat Angst. Und sie kämpft mit Schuldgefühlen. »Ich hatte unterbewusst das Gefühl, dass ich noch glücklich weggekommen bin«, erzählt sie. Durch die psychologische Beratung bei der Opferberatungsstelle Opra lernt sie, ihre eigene Betroffenheit von Polizeigewalt anzuerkennen. »Dann habe ich gemerkt, dass ich drei Rollen trage: Ich bin Betroffene von Gewalt, ich bin Angehörige von Menschen, die ich extrem liebe und die andere Erfahrungen gemacht haben als ich, und ich bin Zeuge.«

Mittlerweile ist die Angst der Wut gewichen. Einer Wut auf die Polizei, die in einer einzigen Nacht so viel kaputtmachen kann und die die drei Betroffenen im Nachhinein weiter schikaniert: Denn gegen F., C. und N. laufen Anzeigen wegen tätlichen Angriffs auf und Widerstand gegen Polizeibeamt*innen, gegen C. und N. wird außerdem wegen Gefangenenbefreiung ermittelt.

Eine gängige Taktik, mit der die Behörde auf Anzeigen gegen Polizist*innen antwortet, sagt Biplab Basu. Der Leiter der Opferberatungsstelle Reachout sitzt mit im Café. Seit mehreren Monaten begleitet er C. und N. in ihrem Verfahren gegen die Polizei, war bei ihren Zeugenvernehmungen dabei, hat ihnen einen Anwalt vermittelt und hilft beim Sammeln der Beweise. »Wir sehen, dass Sie unschuldig sind«, richtet er sich an die beiden jungen Frauen. »Sie wurden schon einmal bestraft, als die Polizei Sie auf den Boden geworfen und dann mitgenommen hat. Wir versuchen, dass Sie wenigstens nicht zum zweiten Mal bestraft werden für etwas, was Sie nicht getan haben.«

Egal, wie das Verfahren gegen F., C. und N. endet, ihr Vertrauen in den Rechtsstaat haben sie bereits verloren. Mit der Polizei verbinden sie nur noch Unsicherheit und Wut. »Ich habe einen Polizeihass entwickelt, ich wünschte, es wäre anders«, sagt C. Und N. geht es genauso. Sobald sie einen Polizeiwagen sieht, spürt sie die Wut in sich aufsteigen.

Sie können gut nachvollziehen, warum es radikalisierte polizeikritische Gruppen gibt – trotzdem sehen sie beide sich in Zukunft nicht als militante Aktivistinnen. Zum einen, weil eine Gewalterfahrung reicht. »Wenn ich auf eine Veranstaltung gehe und Stress mit der Polizei anfange, dann passiert mir vielleicht wieder etwas und die psychischen Schäden sind vielleicht noch schlimmer«, sagt N. Zum anderen, weil sie Teil der Gesellschaft sein wollen. Gerade N., deren Zugehörigkeit als Schwarze Frau immer wieder infrage gestellt wird.

Dazu kommt ein Gefühl der Ohnmacht: Was sollten denn ein paar Leute ausrichten gegen die Staatsgewalt? »Am Ende sitzt die Polizei ja doch immer am längeren Hebel«, sagt N. Dass Polizist*innen strafrechtlich belangt werden, kommt selten vor. Biplab Basu geht zumindest davon aus, dass es zu einem Gerichtsverfahren gegen beteiligte Beamt*innen kommen wird.

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