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  • »Archiv der Avantgarden«

Träume sind keine Schäume

Seit Kurzem gibt es in Dresden das »Archiv der Avantgarden«. Seine erste Ausstellung widmet sich dem Surrealismus

  • Luca Glenzer
  • Lesedauer: 5 Min.
Max Ernst nahm das Träumen ernst. Eine Zeichnung aus dem Zyklus »Histoire naturelle«, entstanden 1925
Max Ernst nahm das Träumen ernst. Eine Zeichnung aus dem Zyklus »Histoire naturelle«, entstanden 1925

Acht Jahre ist es mittlerweile her, dass die beschauliche Kunstwelt in der sächsischen Landeshauptstadt einen Paukenschlag erfuhr: Der italienische Mäzen und Kunstsammler Egidio Marzona hatte damals bekannt gegeben, dass das von ihm über viele Jahrzehnte zusammengestellte »Archiv der Avantgarden« – kurz ADA – perspektivisch in den Besitz der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden (SKD) überführt werden würde.

Der Zuschlag kam damals einigermaßen überraschend: Erst zwei Jahre zuvor hatte Marzona öffentlich angekündigt, dass das ADA voraussichtlich nach Berlin gehen würde. Als heißer Anwärter wurde damals das Kulturforum am Potsdamer Platz gehandelt. Der ausschlaggebende Grund für Dresden, so darf angenommen werden, war der Umstand, dass die damals neu berufene Generaldirektorin der SKD, Marion Ackermann, Marzona ein eigenes Haus für das Archiv in Aussicht stellte.

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So ist es dann auch gekommen: Nach einer 2017 begonnenen, grundlegenden Kernsanierung, die sich insgesamt über sechs Jahre zog, wurde die Sammlung des mittlerweile 80 Jahre alten Marzona jüngst in das Dresdner Blockhaus überführt. Eine zunächst eigenwillige Wahl – symbolisiert dessen barocke Fassade in unmittelbarer Nähe zur Augustusbrücke und zum Goldenen Reiter doch geradezu das Gegenteil dessen, wofür die überwiegend radikalen künstlerischen Erzeugnisse des Archivs stehen. Als Stadt der Avantgarde hatte sich das traditionell höfisch geprägte Dresden in der Vergangenheit jedenfalls nicht hervorgetan. Das könnte sich mit dem neu erworbenen Archiv nun zumindest partiell ändern.

Insgesamt 1,5 Millionen Objekte aus dem 20. Jahrhundert umfasst das ADA. Marzona, dessen Vater Inhaber eines Betonwerkes war, stammt aus einer wohlhabenden deutsch-italienischen Familie. Sein familiärer Hintergrund bescherte ihm bereits mit Mitte 20 die entsprechende Freiheit und sicher auch das notwendige Kleingeld, erste Objekte aus der Welt der Avantgarden zu sammeln. Neben den Kunstwerken selbst interessierte er sich insbesondere für die Bedingungen ihrer Entstehung.

So sammelte er etwa Briefkorrespondenzen, Fotos, Bücher, Entwürfe, Möbel, Designobjekte und vieles weitere. Was als ungerichtetes Hobby begann, erfuhr im Laufe der Jahre zunehmend Systematisierungen, inklusive weltweiter Vernetzung und Recherche. Den durchaus offensichtlichen Widerspruch, eine radikal zukunftsgerichtete Kunstbewegung mit einem archivarischen Anspruch zu versehen, nahm er dabei billigend in Kauf, ohne ihn aufzulösen.

300 der Objekte des ADA sind nun in einer ersten Ausstellung unter dem Namen »Archiv der Träume. Ein surrealistischer Impuls« zu sehen. Der Fokus auf den Surrealismus lag nahe, feierte doch das für seine Geschichte grundlegende »Surrealistische Manifest« des französischen Schriftstellers und Kunstkritikers André Breton dieses Jahr sein 100. Jubiläum. Der bis heute prominenteste Vertreter der Bewegung ist der spanische Maler Salvador Dalí, dessen Konterfei mit ikonografischem Bart auch das Veranstaltungsplakat der Ausstellung ziert. Dabei war Dalí innerhalb der Bewegung alles andere als unumstritten: Bereits 1934 wurde er aufgrund seiner Weigerung, sich an linkspolitischen Aktivitäten zu beteiligen, aus der Kerngruppe um Breton ausgeschlossen – wenngleich er seine Werke noch fünf weitere Jahre mit der Künstlergruppe ausstellte.

Den Kern des Ausstellungsvorhabens – so heißt es im Katalog – bilde die Erkenntnis, dass »Träume ein wesentliches Phänomen darstellen, wenn man den künstlerischen und gesellschaftspolitischen Wandel begreifen will, den die Experimente der Avantgarden im 20. Jahrhundert angestoßen haben«. Träume seien immer avantgardistisch, denn sie seien keinen Regeln und Logiken unterworfen. Ähnlich wie die Avantgarden selbst verschwänden sie ebenso schnell, wie sie auftauchten, hinterließen dabei aber immer Spuren. Nicht umsonst waren die Surrealist*innen in starkem Maße von den Schriften Freuds geprägt. Dalí selbst entwickelte ab den 1920er Jahren gar eine regelrechte Freud-Obsession. Diese psychoanalytische Komponente verbanden ihre führenden Köpfe wie Breton mit Elementen des Marxismus, wodurch sie zu der Annahme gelangten, dass Träume nicht bloß eine individuelle, sondern ebenso eine kollektive und gesellschaftspolitische Dimension beinhalteten.

Streng abgegrenzt von Werken anderer verwandter Kunstströmungen werden die ausgestellten surrealistischen Exponate allerdings nicht, im Gegenteil: So gibt es zu Beginn der Ausstellung Werke dadaistischer Künstler zu sehen, die für die Herausbildung des Surrealismus von zentraler Bedeutung waren. Auch experimentelle Kurzfilme etwa von Andy Warhol werden gezeigt – darunter einer, in dem er mehrere Minuten seinen schlafenden Liebhaber filmt. Ebenso finden sich Auszüge aus literarischen Werken von Vertretern der US-amerikanischen Beat-Bewegung wie etwa Jack Kerouac, Allen Ginsberg oder William S. Borroughs – was nahe liegt, waren doch auch ihre Werke vom Glauben an die transgressive Kraft des Traumes durchzogen und dementsprechend von den radikalen Ansätzen ihrer surrealistischen Vorbilder stark beeinflusst.

Ein weiteres Herzstück der Ausstellung stellen Fotografien der US-amerikanischen Fotografin und Journalistin Lee Miller dar. Sie war in den 1920er Jahren in Paris in die surrealistische Szene eingetaucht und ab 1944 als Kriegsfotografin für das US-Militär im Einsatz. In der Ausstellung sind überwiegend Bilder aus den letzten Tagen des Krieges zu sehen. Darunter befindet sich auch jenes ikonografische Foto, auf dem sie in Hitlers Badewanne sitzt und sich gedankenverloren den Rücken schrubbt.

Gerahmt werden die Ausstellungsobjekte von einer ebenso modernen wie schlichten Inneneinrichtung, die mit der barocken Umgebung des Blockhauses bricht und den avantgardistischen Exponaten einen angemessenen Raum bietet. Damit ist das Archiv innerhalb der Stadt gewissermaßen so fremd wie die Träume innerhalb der fantasielosen Wirklichkeit.

»Archiv der Träume«, bis zum 1. September, Archiv der Avantgarden – Egidio Marzona (ADA), Dresden

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