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Feminismus nur antirassistisch
Serpil Temiz Unvar wird laut eigenen Aussagen vom Vater des Hanau-Täters belästigt und bedroht, feministische Kreise schweigen. Warum eigentlich?
Serpil Temiz Unvar musste Grausames erleben: Ihr Sohn wurde 2020 bei dem rassistischen Anschlag in Hanau ermordet. Und jetzt stelle ihr der Vater des Täters nach, so Temiz Unvar. Auch andere Angehörige sowie Überlebende sollen durch ihn belästigt, verfolgt und bedroht worden sein.
Hans-Gerd R. scheint ein ähnliches Weltbild wie sein Sohn zu vertreten, forderte nach dessen Anschlag die Tatwaffen zurück und beleidigte Hinterbliebene der Opfer, wofür er verurteilt wurde.
Mit seinem Schäferhund sei der Vater des Täters mehrfach vor ihrem Haus aufgetaucht, berichtet Serpil Temiz Unvar. Er habe ihr Fragen gestellt wie, warum sie in Deutschland lebe, wo sie arbeite und wie sie sich das Haus leisten könne. Laut Gedächtnisprotokoll Temiz Unvars soll er zudem mehrfach zusammenhanglos von dem Attentat aus Halle gesprochen haben. Jetzt hat die Staatsanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren eingeleitet.
Nach dem Anschlag gründete Serpil Temiz Unvar eine Bildungsinitiative in Hanau, die sie nach ihrem Sohn benannte. Mit ihrem Team organisiert sie Workshops und Bildungsveranstaltungen zum Thema Rassismus. Eine Mutter setzt sich mit sehr begrenzten Mitteln gegen das strukturelle Problem ein, das ihr Kind tötete.
Mit welchem Selbstverständnis, mit welchem Selbstbewusstsein der Vater des Täters Überlebenden und Hinterbliebenen nachstellen und sie belästigen kann, lässt eine zwar sprachlos werden, überrascht aber nicht. Rassismus-Expert*innen betonen bereits seit Jahren, dass Rassismus in Deutschland strukturell ist. Das weiß scheinbar auch der Vater des Täters, Hans-Gerd R., deshalb kann er sich dieses Verhalten erlauben, sich die Bedrohung und Belästigung der Überlebenden und Hinterbliebenen leisten. Er scheint zu wissen, dass das alles keine Wellen schlägt. Warum eigentlich?
Eine weitere existenziell wichtige Frage zu diesem Sachverhalt ist: Warum wird die Bedrohung und das Nachstellen einer Frau, deren Sohn bei einem rassistischen Terroranschlag ermordet wurde, nicht flächendeckend als ein feministisches Anliegen verstanden? Wo bleibt der öffentliche Aufschrei, den es zu Recht gibt, wenn wir über die Diskriminierung von weißen Frauen sprechen? Ich höre schon eine Antwort: »Rassismus ist doch kein Frauenthema, Rassismus ist kein Thema vom Feminismus, Rassismus betrifft keine Frauen.« Nun doch. Solange es Frauen gibt, die von Rassismus betroffen sind, ist Antirassismus ein feministisches Anliegen. Wenn wir das Gegenteil behaupten, schließen wir Frauen, die von Rassismus betroffen sind, von dem Frausein aus. Wir sprechen ihnen ab, Frauen zu sein. Ist Serpil Temiz Unvar keine Frau?
Dass nichtweiße Frauen von dem Frausein ausgeschlossen werden, hat eine sehr lange Geschichte – diese Praxis geht auf den Kolonialismus zurück. Schon in kolonisierten Teilen der Welt sprachen weißeuropäische Einsiedler*innen kolonialisierten Frauen das Frausein ab, um dort die weiße Vorherrschaft etablieren zu können. Demnach waren nur weiße Frauen richtige Frauen und nur weiße Männer echte Männer. Die Zuschreibungen zu Frauen und Männern und die klar getrennten Geschlechterrollen dienten als Beweis dafür, dass weiße Europäer*innen zivilisierter und evolvierter als kolonisierte Völker waren und somit auch die einzigen, die wirklich Menschen waren. Das sollte den Landraub, die Verschleppung, die Sklaverei, die Ausbeutung und die Gewalt legitimieren. Wenn wir heute die Anliegen von nichtweißen Frauen aus dem Feminismus ausschließen, dann greifen wir auf diese kolonialistisch-rassistische Vorstellung zurück und bauen unseren Feminismus auf eine kolonialistisch-rassistische Vorstellung des Frauseins auf. Es spielt keine Rolle, ob wir dies bewusst oder unbewusst tun – wir sorgen für eine Kontinuität. Als Feminist*innen müssen wir uns klar gegen Rassismus positionieren, damit unser Feminismus auch wirklich wirksam ist und kein Possenspiel.
Zurück nach Hanau: Die Polizei soll gegen Hans-Gerd R. ein 14-tägiges Annäherungsverbot an Serpil Temiz Unvar verhängt haben. Weitere Maßnahmen muss die Justiz entscheiden. Der Mann gehört zuhause eingesperrt – am besten mit einer elektronischen Fußfessel, der Alarm schlägt, sobald er sich in der Nähe des Wohn- und Arbeitsorts von Hinterbliebenen und Überlebenden des Hanau-Anschlags befindet. So könnte man ihn, eine tickende Zeitbombe, vielleicht noch von einer Explosion abhalten.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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