»Das Bier, das nicht getrunken wird, hat seinen Beruf verfehlt«

Die jüdische Familie Meyer aus dem israelischen Ort Nahariya auf Spuren des Großvaters

  • Peter Kirschey
  • Lesedauer: ca. 6.5 Min.
Nein, ein politischer Mensch ist er nicht, sagt Andreas Meyer immer wieder mit Vehemenz. Esther, seine Frau, hört schwer, doch sie nickt gütig-zustimmend. »Da hätten sie meinen Bruder fragen müssen, der war ein richtiger Linker.« Dem 85-jährigen hageren Alten hat sich das Schicksal tief in seine Haut gegerbt. Doch er ist kaum zu bremsen, er will seine Geschichte erzählen, die Geschichte einer Emigration.
Emigration ist ein gefährliches Wort. Es verharmlost das Geschehen, verfälscht die Geschichte. Es war eine gnadenlose Vertreibung aus dem Land der Väter und Vorväter. Die Heimat, das war Deutschland. Bis die braunen Horden 1933 von Deutschland Besitz nahmen. Von da an war alles anders für den jungen Andreas. Freunde wandten sich ab, Nachbarn grüßten nicht mehr, aus Anfeindungen wurden Beleidigungen und Angriffe.
Der Gymnasiast Andreas Meyer, der sich einem technischen Beruf verschrieben hatte, verstand nur schwer, was da um ihn herum geschah, warum er nicht den Beruf erlernen durfte, für den er Talente und Fähigkeiten zeigte. Vier Jahre noch, dann hielt es die Familie nicht mehr aus.

Der Pass - Schlüssel zum Weiterleben
Es waren unendlich lange und dramatische Wochen, als der Vater aus dem Westfälischen in Berlin weilte, um die Pässe bei der Gestapo am Alexanderplatz abzuholen. Immer wieder Fragen der Beamten, immer wieder das höhnische Grinsen mit Anspielungen auf Deportation. Ungewissheit, Verzweiflung. Dann endlich bekam er die befreienden Dokumente - ohne ein Wort der Erklärung. »Wissen Sie, was es heißt, einen Pass zu bekommen, weiterzuleben?« Die Erinnerung an den Moment übermannt ihn, nach Minuten hat sich der alte Mann wieder gefangen.
Die Eltern verkauften ihren Besitz, um außer Landes zu gelangen. »Verkauf« - wieder ein Wort, das die Wirklichkeit verfälscht. Sie hatten die »Reichsfluchtsteuer« an die Nazis zu entrichten, faktisch das gesamte Eigentum. Doch für das Regime wertloses Zeug - Stühle, Tische Schränke, Zangen, Bohrer und Schraubenzieher - durften sie mitnehmen, einen ganzen Holzcontainer voll. Das war der Start in die neue Welt. Alle Ankömmlinge waren fremd, das machte die Lage erträglicher.
Mit 16 Jahren begann Andreas mit seinen Eltern das zweite Leben in Nahariya, einem Ort, der noch keiner war, ein Stück ausgedörrtes Land irgendwo hinter den Hügeln. Es waren deutsche Intellektuelle, Künstler, Wissenschaftler, Pädagogen. Jeder Einwanderer bekam Land und 500 Hühner. Die Frauen und Männer, die alles hinter sich gelassen hatten und da unbeholfen über die staubige Erde stapften, wußten viel über Kunst und Wissenschaft - nur wo bei den Hühnern die Eier rauskommen, das wussten sie nicht. Bauern, erfuhren sie, stehen früh auf und gehen früh schlafen. Doch was soll man in der Frühe in der Einöde machen? Man sprach ausschließlich Deutsch in Nahariya und Umgebung, viel später kam Hebräisch hinzu.
Andreas wurde Schlosser mit den alten Werkzeugen seiner Eltern aus Deutschland, ein gefragter Handwerker. Es gab kaum jemenden im Dorf, der mit den Gerätschaften umgehen konnte. Als 1950 eine 60-Zoll-Wasserleitung zwei Kilometer vor Tel Aviv ins Meer gelegt wurde, waren seine Fähigkeiten gefragt. Fortan produzierte er Taucherausrüstungen und entwickelte die erste Tauchermaske, die in Israel zum Einsatz kam. Mit den künstlerischen Fähigkeiten seines 1960 geborenen zweiten Sohnes Giora entdeckte er die Liebe zum Glas. Die leuchtenden Erzeugnisse der »Nahariya Glass« der Söhne Yigeal und Giora werden heute über die Exportfirma »Andreas Meyer« in die Welt geschickt. An Ausruhen denkt der 85-Jährige nicht.

Holzcontainer war das erste Wohnhaus
Andreas Meyer wollte immer wieder nach Deutschland, in das Land seiner Vorfahren. Esther, die er 1944 heiratete, ist immer dabei. Wie kannst du ein Land besuchen, das dir das angetan hat, wird Esther von ihrer Freundin in Kanada gefragt. Der Fluchtweg von Esther, über Prag, Budapest, den Balkan und die USA war weitaus dramatischer als der ihres Mannes, doch das ist eine ganz andere Geschichte. »Warum soll ich nicht nach Deutschland fahren? Deutschland ist ein wunderschönes Land. Man hat mir meine Heimat geraubt«, bricht es plötzlich aus ihr heraus. »Israel ist meine Heimat, doch ich kann Deutschland nicht einfach so weglegen.«
Immer wieder kamen die Meyers nach Deutschland, exakter in die Bundesrepublik, das geeinte Berlin hatte jedoch eine besondere Bedeutung für sie. In dem Container, der Eltern, der am Anfang »Einfamilienhaus« war, lagen auch alte Blätter, die die Neugier der Meyers auf Berlin weckten.
Und damit sind wir beim Großvater Alexander und seinem berühmten Spruch »Das Bier, das nicht getrunken wird, hat seinen Beruf verfehlt«. Der Breslauer Reichstagsabgeordnete Alexander Meyer von der Liberalen Partei, der später zur Freisinnigen Partei wechselte, schleuderte diesen Satz 1880 den Sozialdemokraten im preußischen Landtag entgegen. Es war natürlich ein hochpolitischer Ausspruch. Im Parlament wurde damals über die »Schanksteuer« debattiert und die Linke wollte die Steuer nur auf Spirituosen beschränken. Doch mit Leidenschaft erläuterte Meyer, wofür Spiritus alles genutzt und steuerlich gar nicht erfasst werden könne, Bier hingegen sei nur zum Trinken da. Und dann fiel eben jener Satz, der Parlamentsgeschichte machte.
Alexander Meyers Spuren in Berlin sind schon lange verweht, sein Grab existiert nicht mehr, doch sein Gesicht haben die meisten Berliner und ihre Gäste schon einmal gesehen. Der antike Meeresgott Neptun, der in der Mitte des 1891 eingeweihten Brunnens von Reinhold Begas, der einst am Berliner Schloss stand und heute vor dem Roten Rathaus steht, trägt die Gesichtszüge des bärtigen Reichstagsabgeordneten Alexander Meyer - so sagt es zumindest die Legende.
Der Großvater war ein scharfsinniger Beobachter der preußischen Hauptstadt, notierte sich die Eigenheiten der Berliner, suchte typische Ecken der Stadt auf, um sie literarisch auf den Sockel zu heben. »Aus guter alter Zeit - Berliner Bilder und Erinnerungen« hieß das Büchlein, dass 1909, ein Jahr nach Meyers Tod, erschien und zu Kaisers Zeiten ein Renner war. Über die Berliner Saure-Gurkenzeit wußte Meyer: »Die Zeit der sauren Gurke ist die ereignisarme, die tatenlosen Zeit, in welcher die Weltgeschichte stillsteht, weil alle, die an ihr arbeiten, sich auf Erholungsreisen befinden... In Berlin ist für die große Menge die saure Gurke stets ein im hohen Sommer unentbehrliches Genußmittel gewesen. Wo in der Nähe Manöver oder Paraden stattfinden, beim Stralauer Fischzug, bei allen größeren Ansammlungen von Menschenmassen, führen die Lieferanten, die sich in Schiebekarren in spekulativer Absicht dem Zuge anschließen, hauptsächlich folgende Dinge mit sich: Zigarren und Kümmel, saure Gurken und Knoblauchwürste.« Der Chronist beschrieb Weißbier, Droschkenkutscher, Kaisers Geburtstag oder Bismarck in Berlin. Jetzt wird das Buch auf Initiative seines heute 85-jährigen Enkels Andreas in Berlin eine Wiedergeburt erleben.
Die Geschichte der Vertreibung der Familie Meyer aus Deutschland ist auch in einer Sonderausstellung des Jüdischen Museums zu sehen. 44 Werkzeuge, die die Meyers aus Deutschland mitnehmen durften, Dokumente und Fotos vom Neuanfang in Israel. Mit den Arabern, erinnert sich der Alte, hatten sie nie Probleme, sie waren aufeinander angewiesen, halfen einander. Das änderte sich1947 mit dem britischen Teilungsplan, sagt er.
Empfinden Sie es nicht als bedrückend, ein Leben lang unter dem Druck von Krieg und Anschlägen zu leben, frage ich sie bei der kurzen Begegnung am Rande der Ausstellungseröffnung. »Nein, wir leben doch im Frieden«, meint Esther. »Es ist ein guter Frieden, So sicher wie heute haben wir früher nicht gelebt.«

Mit eigener Armee kam die Sicherheit
Gut, dass wir heute eine richtige Armee haben, sagen die beiden Alten, sie schützt uns, sie verteidigt unser Leben. Überall in der Welt müssen Juden Beleidigungen hinnehmen, werden gedemütigt, in den USA, in Argentienen oder Russland. Mit Israel haben wir einen Staat, in dem wir als Menschen leben können. Der Widerspruch gegen die jüngste israelische Aggresion in Libanon erstarrt auf den Lippen. Kann man es den Beiden wirklich übelnehmen, dass sie sich geborgen fühlen unter dem Dach der stärksten Militärmacht im arabischen Raum?

»Heimat und Exil - Emigration der deutschen Juden nach 1933«, Ausstellung im Jüdischen Museum, Lindenstraße 9-14 bis 9. April.
»Aus guter alter Zeit - Berliner Bilder und Einnerungen«, Alexander ...

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