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Klimmzüge in der »Villa Grassimo«

  • Sebastian Krüger
  • Lesedauer: ca. 6.5 Min.

Im schleswig-holsteinischen Wewelsfleth steht ein kleines Dichterlandheim. Seit 20 Jahren beherbergt das Alfred-Döblin-Haus Berliner Schriftsteller. Dort, wo Günter Grass einst am »Butt« schrieb, machen die Autoren ihre ersten literarischen Gehversuche.

Als im Frühjahr 2006 das Telefon bei Martin Lechner klingelte, machte er gerade seine Klimmzüge an der Stange, die quer in seinem Flur hängt. Das tut der drahtige 32-Jährige immer, wenn er den ganzen Tag am Schreibtisch gesessen hat. Als ihm die Stimme am anderen Ende mitteilte, dass er einer von neun Alfred-Döblin-Stipendiaten in diesem Jahr sei, war er so froh, dass er am liebsten einen Hüftumschwung gemacht hätte, aber dafür war die Decke im Flur zu niedrig.
Seit zwei Jahren schreibt der Jungliterat, der sich die Haare über der Stirn stets hochbürstet, an seinem ersten Roman. Es geht darin um jemanden, der wider Willen zu einem Kriminellen wird, und eigentlich ist das Manuskript fast fertig. Doch wegen des aufreibenden Jobs in einer Behinderteneinrichtung, mit dem er den Lebensunterhalt verdient, verging Monat auf Monat, ohne dass Lechner zum Feinschliff ansetzen konnte. »Um ernsthaft und in Ruhe an einem Manuskript zu arbeiten, ist ein Stipendium ideal«, sagt er. Nicht so schwer, eins zu ergattern, sollte man denken - angesichts der vielen hundert öffentlichen Fördermöglichkeiten, mit denen der deutsche Literaturbetrieb so großzügig ausgestattet ist wie kein zweiter auf diesem Planeten. Lechner hat sich schon an vielen Ausschreibungen beteiligt, doch oftmals, das weiß er auch eigener Erfahrung, wird man erst dann berücksichtigt, wenn man schon einen Preis oder eine Veröffentlichung vorweisen kann. »Deshalb ist der erste Preis im Grunde ein Paradox!«
Dank des Alfred-Döblin-Preises ist es ihm gelungen, dieses Paradox zu knacken. Seit 1986 gibt es den Preis, Jahr für Jahr ausgelobt von der Berliner Akademie der Künste (AdK). Mit ihm werden nicht nur solche Berliner Schriftsteller gefördert, die bereits veröffentlicht haben, sondern auch jene, die »in Arbeitsproben eine literarische Befähigung erkennen lassen« - so steht es im Ausschreibungstext. Der Preis besteht in einem drei- bis sechsmonatigen Aufenthalt im Alfred-Döblin-Haus. Das befindet sich in Wewelsfleth, einem 1500-Einwohner-Dorf in Schleswig-Holstein, 60 km nordwestlich von Hamburg, gleich hinter Glückstadt, gleich hinter dem Elbdeich.

Schenkung von Günter Grass
Das alte Fachwerkhaus mitten im Ortskern, es wird von zwei Edeka-Läden flankiert, stammt aus dem 17. Jahrhundert und diente einst als Kirchspielvogtei. 1972 wurde es von Günter Grass gekauft. Die Dielen schwingen, die Stiegen knarzen, rechte Winkel gibt es nicht. Wände, Türen, Fensterrahmen - alles ist dunkel, rissig und schief. In dem Gebäude, das so seltsam aus der Zeit gefallen scheint, lebte Grass mit seiner Familie zwölf Jahre lang, hier schrieb er einige seiner Klassiker, darunter die Romane »Der Butt«, »Das Treffen in Telgte« und Teile der »Rättin«. Als er Mitte der 80er Jahre auszog, schenkte er das Haus dem Land Berlin mit der Auflage, dass der schriftstellernde Nachwuchs der damals noch geteilten Mauerstadt hier arbeiten könne. Seitdem dient das von außen rot, gelb und blau bemalte Haus jeweils drei Berliner Dichtern als Landheim.
Jörg Feßmann ist der Sekretär der Sektion Literatur der AdK. Er koordiniert den Ausschreibungsprozess, stellt die dreiköpfige Jury zusammen, der je ein Vertreter der AdK, des P.E.N. und der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Forschung und Kultur angehört. Bewerbungsschluss ist traditionell der 30. September, Anfang des jeweils nächsten Jahres steht die Auswahl fest. Derzeit ist es üblich, drei Mal im Jahr drei Autoren für drei Monate nach Wewelsfleth zu schicken - macht neun Autoren pro Jahr. Im Winter steht das Haus leer, um Heizkosten zu sparen. Für 2006 bewarben sich 102 Autoren, für den dritten und letzten Durchgang in diesem Jahr wurden Jürgen Große (43) und Ernst-Martin Schmahl (55) ausgewählt - und Martin Lechner, er ist der 176. Döblin-Stipendiat.
Dass das Haus den Namen des Autors von »Berlin Alexanderplatz« trägt, geht auf Günter Grass zurück, der damit seinem Vorbild ein Denkmal setzte. Untereinander nennen die Stipendiaten ihr zeitweiliges Wewelsflether Zuhause allerdings auch gern »Villa Grassimo« - in Anlehnung an die römische Villa Massimo, in der deutsche Künstler leben und arbeiten können. Wie dem auch sei, das Döblin-Haus steckt voller Geschichten - kein Wunder bei so vielen Bewohnern, deren Arbeit darin besteht, Geschichten zu erfinden und sie aufzuschreiben. Einige davon sind in dem Band »Damals, hinterm Deich« versammelt, in dem sich Ex-Stipendiaten an ihre Wewelsflether Monate erinnern, darunter André Kubiczek, Judith Hermann, Felicitas Hoppe.
Wer diese Geschichten lieber live hören will, muss vorbeischauen, wenn Hannelore Keyn zum Herumwirtschaften vorbeikommt. Frau Keyn ist der gute Geist des Hauses, eine kleine, energische Gouvernante Anfang 70. Dreimal in der Woche macht sie sauber, schimpft schlampige Stipendiaten aus und hinterlässt Blechkuchen oder Eingemachtes. Ihr »Gegenspieler« ist der ewig heisere Hausmeister Priebe, der oft übellaunig ist. Dass ihm die Stipendiaten in ihren Erinnerungen sehr viel weniger Sympathie entgegenbringen als der guten alten Fee Frau Keyn, liegt vielleicht auch daran, dass er zum Beispiel mit dem Rasenmäher immer wieder die arbeitsame Ruhe stört.
Die vielen Döblin-Stipendiaten haben im Ex-Domizil des Literaturnobelpreisträgers Werke vollendet, weitergesponnen oder auch neue begonnen. Auf manche wirkte der Genius des Vorgängers aber auch schreibhemmend, andere flüchteten schon nach wenigen Tagen vor einer sich anschleichenden Depression. Wenige blieben: Peter Wawerzinek zum Beispiel, erst erlag er dem Charme des Ortes, dann dem einer Frau, schließlich ließ er sich ganz und gar in der Nachbarschaft nieder. Martin Lechner hat sich fest vorgenommen, in Wewelsfleth sein Romanmanuskript auf Hochglanz zu polieren. Er schottet sich hier ganz bewusst ab. »Sozialentschlackung« nennt er das, und »Reizentwöhnung«: keine Zeitung, kein Internet, kein Telefon, Kontakt mit der Außenwelt hält er am liebsten per SMS, weil man sich da auf das Wichtigste konzentrieren muss. Dass Günter Grass vor einigen Wochen fast täglich in den Medien präsent war, wegen seiner Mitgliedschaft in der Waffen-SS, bekam er deshalb nur ganz am Rande mit. »Wir haben auch beim Essen mal drüber gesprochen, aber so richtig tangierte uns das nicht.«
Lechner wohnt im ausgebauten Dachgeschoss, hinauf gehts über eine wacklige Leiter. Oben ist es hell und geräumig, nur die Dachbalken hängen so niedrig, dass man, statt sich immer wieder tief hinab zu beugen, den Kopf besser gleich unter den Arm nimmt. »Ich schlafe viel und ich arbeite viel,« sagt Lechner, spätestens um zehn sitzt er am Schreibtisch. Wenn er am Nachmittag Hunger bekommt, steigt er hinab ins Erdgeschoss, in die urige, schummrige Küche. Dann verlassen auch seine beiden Mitstipendiaten ihre Kammern, man spricht ein wenig, trinkt Kaffee zusammen, schnell kehren alle wieder an ihre Computer zurück. Erst am Abend gönnt sich Lechner die nächste Pause. Er hängt sich an einen der Dachbalken - um Klimmzüge zu machen.

Eingebettet zwischen zwei Atomkraftwerken
Manchmal holt er sich auch ein Rad aus dem windschiefen Schuppen und fährt über die Feldwege, die hier, und seien sie auch noch so schmal, asphaltiert sind. Auf der Wilstermarsch, so heißt die Gegend, stehen Kühe, Schafe und Trecker, und manchmal sieht man sogar einen »Marsch-Menschen«. Hinter Bäumen versteckt, ganz nah am Fluss, steht die Atomburg Brokdorf: Wassergräben, Palisaden, nur eine Zugbrücke fehlt. Jenseits des Deichs, dort wo das AKW sein Brauchwasser in die rund zwei Kilometer breite Elbe sprudelt, kreischt eine Hundertschaft Möwen: sie jagen Stinte, kleine Fische, die sich im warmen Kühlwasser tummeln. Auf dem Fluss ziehen langsam große Frachtschiffe gen Hamburg, flussab erhebt sich im Dunst das nächste AKW: Brunsbüttel.
Dass sich die Atommeiler, das Döblin-Haus oder gar der Schnauzbart des Literaturnobelpeisträgers unbemerkt in die letzte Fassung seines Romans einschleichen könnten, hält Lechner für ausgeschlossen. Schon eher möglich, dass sich etwas davon in dem Text niederschlägt, den er hier begonnen hat und aus dem er am Ende seines Stipendiums vorlesen will - bei der traditionellen Lesung, mit der sich die Döblin-Stipendiaten am kulturellen Leben Wewelsfleths beteiligen. Die Lesung findet statt in Grass alter Küche und wird von einer kleinen aber treuen Schar literaturinteressierter »Marsch-Menschen« besucht. Am 14. November ist es wieder soweit: Die Lesung der Stipendiaten in diesem Jahr von Wewelsfleth trägt den Titel: »Nach dem Vergnügen: posterotische Meditati...

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