Im Toberaum

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 3 Min.

Es gab einmal eine Zeit, in der die Bibliothek eine Insel der Ruhe und der Kontemplation war. Menschen saßen in dicke Folianten vertieft vor meterhohen Regalen, und die einzigen Geräusche, die man vernehmen konnte, waren ab und an ein vorwitziges Zeitungsseitenrascheln und alle halbe Stunde ein verlegenes Husten. Es galt unausgesprochen die Übereinkunft, dass Menschen auf der Suche nach Stille hierherkamen, Menschen, die dem nichtigen Gewimmel und dem lärmenden Stumpfsinn des Berliner Alltagsquatschs zu entrinnen suchten, Menschen, die sich einig waren, dass die Klappe zu halten hat, wer hier ein- und ausging. Dass man sich hier auf etwas konzentrierte, dass man hier niemanden ohne Not durch dummdreistes Geschwätz aus seinen Gedanken holte, war ausgemachte Sache. Diese Zeit ist vorbei. Endgültig.

Heute darf es keinen Ort geben, der nicht überrannt wäre von den allzeit allgegenwärtigen Schwätzern und Fuchtlern, Brüllern und Smartphoneschwenkern. Seit beispielsweise vor ca. anderthalb Jahren die Neuköllner Helene-Nathan-Bibliothek im Handstreich gewaltsam von einer Schar narzisstisch gestörter Kinder eingenommen wurde, die im Schlepptau Eltern haben, die das kaputte Sozialverhalten ihrer Blagen nach Kräften fördern, indem sie ihnen beibringen, dass eine Bibliothek vor allem eine Art riesiger Abreaktions- und Toberaum ist, hat der Leser nichts mehr zu melden, ja, er muss sogar dankbar sein, dass er hier überhaupt noch geduldet wird.

Was einmal eine Bibliothek war, haben Kleinkinder und deren Erzeuger in einen gigantischen Indoor-Abenteuerspielplatz für Verhaltensgestörte jeden Alters verwandelt, auf dem es zugeht wie auf einem nie endenden Jahrmarkt: »SCHAU MAL, ANTONIA! DIE MÄNNER DA LESEN!«, belehrt ein Vater, über zwanzig Meter hinweg brüllend, seine ca. vierjährige Tochter, die derweil durch den Lesesaal rennt und dabei ein so markerschütterndes Kreischen von sich gibt, als werde sie gerade bei lebendigem Leib gevierteilt. »Emil, KEINE WIDERREDE JETZT! Wir sind NICHT den langen Weg hierhergekommen, damit du dir jetzt NICHTS ausleihst!«, schreit eine Mutter ihren verwirrten Zögling an und drückt ihm drei dicke Bücher an die Brust. Das Kind weint.

Viele Menschen scheinen derzeit noch ausreichend Verstand zu haben, um zu wissen, dass es angeraten ist, die Hose zu öffnen, bevor man seine Notdurft verrichtet, nicht aber genug Verstand, um zu begreifen, dass man sich durch eine Bibliothek nicht bewegt wie durchs Münchner Oktoberfest. Dieses alte Wissen muss irgendwann zwischen der Ära der Erfindung des Mobiltelefons und der gegenwärtigen Phase, jener der Totalverblödung der Gesellschaft, verloren gegangen sein.

Blickt man in die Gesichter der Bibliotheksangestellten, sieht man Augen von Menschen, die schon vor langer Zeit aufgegeben haben. Als ob sie alle den tätowierten Schriftzug »RESIGNATION« auf ihrer Stirn spazieren trügen. Es sind die Mienen von Galeerensklaven, die gelernt haben, sich in ihr Schicksal zu fügen.

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