Eine Nebenrolle

Jürgen Kohlhase zeichnet im Berliner LKA Phantombilder und Tatortskizzen

  • Christina Matte
  • Lesedauer: ca. 8.5 Min.
In Kriminalfilmen spielen Leute wie Jürgen Kohlhase meist nur eine Nebenrolle, wenn überhaupt. Im wirklichen Leben auch. Die Fälle werden von Kommissaren, Gerichtsmedizinern, Kriminaltechnikern, Psychologen oder Profilern gelöst, von jemandem wie Kohlhase nie. Es kann sein, dass er nicht einmal erfährt, ob er zur Lösung eines Falles beigetragen hat, wenigstens ein ganz kleines bisschen. In der Regel jedoch erfährt er es, und wenn er auch nur ein Fünkchen zum Erfolg beisteuern konnte, macht es ihn stolz. Kohlhase ist Phantombildzeicher, mittlerweile der dienstälteste im Landeskriminalamt Berlin. Jürgen Kohlhase ist mit seiner Nebenrolle durchaus zufrieden. Schließlich hat er sie sich selbst ausgesucht, damals, vor 35 Jahren, als er seinen Job als grafischer Zeichner in einer Berliner Klischeefirma aufgab und sich auf eine Ausschreibung hin bei der Polizei bewarb. Von 80 Bewerbern wurde nur einer genommen - er. Bisher hatte er immer unter »ferner liefen« rangiert, dann dies! So ein Erlebnis war ihm nie zuvor und danach nie wieder beschieden. Den Gang der Dinge hat er trotzdem nicht bereut. Es hatte ihn ja nicht zur Polizei gezogen, weil er zu viel Stahlnetz, Derrick oder Tatort gesehen hatte und er ein Held werden wollte, sondern weil er den Wunsch verspürte, mit dem, was er gelernt hatte, »etwas Interessantes zu machen, anderen zu helfen«. Außerdem hätte er, um ein Held zu werden, kallhart sein müssen. Das ist er nicht. Er ist ruhig, zuvorkommend, freundlich, mit 57 schon etwas füllig- in einer Kommissarslederjacke sähe er wahrscheinlich ziemlich albern aus. In seinem gepflegten Hemd und der gutgeschnittenen Weste dagegen sieht er überhaupt nicht albern aus, sondern irgendwie sehr verlässlich. Die Kleidungsstücke passen zu ihm. So, wie er als Rädchen ins Getriebe passt. Er ist das geborene Rädchen im Getriebe. Deshalb würde er sich selbst auch nie »Phantombildzeichner« nennen, wie seine Berufsbezeichnung neuerdings etwas reißerisch aufgepeppt wird, sondern nüchtern »Polizeigrafiker«. Letzteres, glaubt er, beschreibt seine Tätigkeit auch besser. Denn Polizeigrafiker fertigen nicht nur Phantombilder beziehungsweise subjektive Täterporträts an, sondern auch Tatortskizzen. Seine vorerst letzte zeichnete er, als in der Nacht vom 9. zum 10. November einer der zwei Räuber, die einen Geldtransport vor der Sparkasse in der Karl-Marx-Allee überfielen, erschossen wurde. Wenn Kohlhase morgens im LKA am Tempelhofer Damm das Büro betritt, das er sich mit fünf Kolleginnen und Kollegen teilt, schaut er den Tätern ins Gesicht. Beziehungsweise: Die Täter starren ihm ins Gesicht. Hunderte Phantombilder bedecken die Wände wie eine Tapete. Mörder, Totschläger, Messerstecher - Kopf an Kopf. Die Polizeigrafiker haben hier die Arbeit von Jahren, Jahrzehnten verewigt. Nicht aus Eitelkeit, sondern weil sie auch heute noch nützlich sein kann - manchmal hilft sie einem Zeugen, sich wenigstens an den Typ desjenigen, den er beschreiben soll, zu erinnnern. »Es geht immer um den Typ«, erklärt Kohlhase, »ein subjektives Täterporträt wird nie ein fotografisches Abbild sein. Aber wenn ein Porträt den Typ trifft, steigt die Chance, dass jemand den Täter wiedererkennt. Während mich die abstruse Galerie auf eine schaurige Weise anzieht, bedrückt oder irritiert sie Kohlhase nicht im geringsten. Die grausigen Details der Taten, welche die Menschen, die er zeichnet, begangen haben, werden ihm nur in den seltensten Fällen bekannt - er möchte sie auch gar nicht wissen. So kann er sich der verruchten Gesellschaft relativ entspannt hingeben, sich sogar für sie begeistern. Natürlich unter rein fachlichem Aspekt: Wie einzigartig jeder Mensch aussieht! Und wie es ihm und seinen Kollegen gelingt, die verschiedensten Typen zu zeichnen. Verrät eine Physiognomie, ob jemand ein Mörder, Totschläger, Messerstecher, Vergewaltiger oder Kinderschänder ist? Die Konterfeis sagen mir: Ja. Denn irgendwie schräg sehen sie alle aus, die da von der Wand blicken, irgendetwas Fieses hat jeder von ihnen - einen irren Blick, verschlagene Augen, einen hängenden Mundwinkel, dunkle Augenringe vom Suff, verlebte, verwahrloste Züge. Aber lese ich die Gefährlichkeit, die Kälte, die Bosheit, die Gemeinheit nicht bloß in die Gesichter hinein, weil ich weiß, sie gehören Verbrechern? Kohlhase nickt: »Es sind ja nicht nur gestörte Persönlichkeiten, die Kapitalverbrechen begehen. Einer steht unter Alkoholeinfluss, ein anderer wird provoziert, wieder ein anderer ist verzweifelt.« Was man wohl in mein Gesicht hineinlesen würde, würde Kohlhase es zeichnen? Nicht mehr jedes Bild kann Kohlhase noch mit einem Fall in Verbindung bringen. Manche schon. Das des ernst blickenden älteren Mannes mit dem tiefen Seitenscheitel und der großen Brille zum Beispiel, den er einst nach Zeugenbeschreibungen erstaunlich genau getroffen hat. Aufgrund seines Täterporträts konnte man ihn festnehmen. Dummerweise sah der Mann zwar seinem Porträt und auch dem Täter unglaublich ähnlich, aber er war es nicht, der das Verbrechen begangen hatte. So etwas passiert. Der Mann, als sich der Irrtum herausstellte, tat Kohlhase Leid. Er hat ihn bis heute nicht vergessen. Die Berliner Polizeigrafiker erstellen ausschließlich Phantombilder von mutaßlichen Kapitalverbrechern, etwa 200 Bilder pro Jahr. Als Kohlhase im LKA anfing, waren es jährlich höchstens zwei bis drei, zunächst für die interne Fahndung. »Man ist sehr spät dazu gekommen, mit den Bildern in die Öffentlichkeit zu gehen«, erinnert er sich. Die Trendwende setzte ein, als einer seiner erfahrenen Kollegen ein Täterprofil erstellte, das in der Presse veröffentlicht wurde und »wahnsinnig viele Hinweise erbrachte«. Ein 30-jähriger Vergewaltiger aus Zehlendorf konnte daraufhin gefasst werden: »Man sah, das hat ja doch Erfolg. Das hat unsere Arbeit aufgewertet.« Eine ganze Flut von Hinweisen gehe immer dann ein, berichtet Kohlhase, wenn in der Zeitung oder im Fernsehen das Phantombild eines Mannes gezeigt wird, der des Verbrechens an einem Kind verdächtigt wird. Wenn Kinder im Spiel sind, reagiere die Öffentlichkeit sensibel, und auch das LKA ziehe alle Register. So konnte 1991 mit Hilfe eines subjektiven Täterporträts ein Mann verhaftet werden, der auf einem Spielplatz in Neukölln ein Mädchen ermordet hatte. In die Annalen des LKA ging er als »der Hinkende« ein. Als das Phantombild Karriere zu machen begann, zeichneten die Polizeigrafiker noch mit Stift und Papier. Dann kamen die Folien, die bereits die Kopfform vorgaben, in welche dann Augen, Mund, Nase usw. eingefügt wurden. Später erleichterte der Fotofit-Koffer die Arbeit: Mit seiner Hilfe wurden Gesichter aus einzelnen Fotostreifen zusammengesetzt. Kohlhase hat noch so einen Koffer im Büro: ein ziemliches Monstrum, denn es musste viel hineinpassen - eben die verschiedensten Stirn-, Mund-, Augen-, Nasen- und Kinnpartien. 1993 stiegen die Berliner Polizeigrafiker auf Computer um. Kohlhase leugnet nicht, dass »die Umstellung nicht ganz einfach war«, aber heute sind er und seine Kollegen davon überzeugt, dass der Computer für sie und die Zeugen »komfortabler ist als alles davor«. Dennoch, auch heute ist Kohlhases engster Partner nicht der Computer, sondern der Zeuge. Manchmal auch das Opfer selbst - so es mit dem Leben davonkam. Ein Phantombild steht und fällt mit der Beobachtungsgabe und dem Gedächtnis seiner Partner. Kohlhase sagt, letztlich sei er nur deren »verlängerter Arm« - sie sind es, die die Hinweise geben. Im Laufe der Zeit hat er gelernt, dass manche Zeugen oder Opfer ein »fotografisches Gedächtnis« besitzen, sogar besonders genau hinsehen, wenn sie eine Tat beobachten. Anderen fehlt diese Gabe völlig. Oder sie waren zu aufgeregt, wurden von Lichtverhältnissen getäuscht, anderweitig abgelenkt. Nicht wenige Zeugen, weiß Kohlhase, lehnen es aber von vornherein ab, bei einem Phanotombild mitwirken - sie haben Angst vor dem Täter, fürchten Unannehmlichkeiten oder dass sie vor Gericht aussagen müssen. Dann ist nichts zu machen, man kann sie nicht zwingen. Was wird einem Zeugen abverlangt, der sich darauf einlässt, beim Erstellen eines Phantombildes zu helfen? Probieren wir es aus. Ich nehme neben Kohlhase am Computer Platz, er ruft das »Facette«-Programm auf, und los geht's. Zuerst die Kopfform: In einer Leiste neben der Arbeitsfläche sind zig Varianten vorgegeben - welche entspricht nun der, die mir vorschwebt? Schmal soll sie sein, so viel steht fest, aber welche der vielen schmalen ist es? Als ich mich endlich entschieden habe, bin ich mir immer noch nicht sicher - ich müsste das Gesicht als Ganzes sehen, noch ist es ja nur eine leere Fläche. Wir machen weiter mit der Frisur: hell oder dunkel, kurz oder lang, glatt oder lockig, dünn oder kräftig, links, rechts, in der Mitte gescheitelt, mit oder ohne Ponyfransen, elegant oder frech, trocken oder fettig, glamourös oder unauffällig? Der Mund: normal, schmal oder üppig? Mehrere Dutzend schmaler Lippen. Welche sind die richtigen? Die mit den hängenden Mundwinkeln, der herzförmigen Oberlippe? Auch Dutzende Nasen stehen zur Wahl: kurz, lang, knubbelig, aristokratisch, schlank im Sattel, breit an den Flügeln, gerade, gebogen, nach oben gestülpt, große und kleine Nasenlöcher. Stimmt der Abstand zum Mund, ist das Kinn nicht zu lang? Kohlhase kann es im Nachhinein richten. Die Augen: groß, normal oder klein? Sie sollten in diesem Falle normal sein. Doch was sind normale Augen? Rund, oval oder mandelförmig? Dicht bei- oder weit auseinanderstehend? Mit schweren oder gar keinen Lidern, kurzen, langen, borstigen Wimpern, müdem oder strahlendem, beseeltem oder leerem Blick? Die dazugehörigen Brauen: buschig oder schmal, gerade, geschwungen, hochgewölbt, zusammengewachsen? Nicht zu vergessen schließlich die Ohren: eng anliegend, abstehend? Groß, klein, rund, spitz zulaufend, mit zierlichen, üppigen Ohrläppchen? Obwohl ich die Person, die Kohlhase zeichnet, seit Jahren jeden Tag sehe, habe ich nicht die geringste Ahnung. Immer wieder tauscht Kohlhase einzelne Elemente aus, ja, so könnte es hinkommen. Er druckt die entstandene Skizze aus, setzt von Hand noch ein Paar Striche, die Falten und Wangenpartien markieren ... Als ich das Bild nochmals betrachte, durchzuckt mich ein eisiger Schreck: Ich kann nicht ausschließen, dass sie mich erwischen. Nur Menschen, die dazu geboren sind, Rädchen im Getriebe zu sein, sind gute Rädchen - will heißen, sie funktionieren. Aber wenn Kohlhase in aller Bescheidenheit behauptet, nichts als der »verlängerte Arm« der Zeugen zu sein, dann untertreibt er. Er ist der Mann, der genau zuhört, sich einfühlt, fast Gedanken liest, Angebote unterbreitet und eine engelsgleiche Geduld hat. Nur so kann er - mit einigem Glück - einem Gedächtnis Detail um Detail entreißen. Am »ergiebigsten« sind Zeugen, weiß er, wenn die Erinnerung noch frisch ist. Dasselbe gilt, wenn er mit Opfern zusammenarbeitet. Andererseits leiden Opfer, wenn die Tat noch nicht lange zurückliegt, besonders. Sehen sie ihren Peiniger dann auf dem Bildschirm noch einmal vor sich, kommt es vor, dass sie Panik ergreift. »Wir hatten hier schon Frauen mit Weinkrämpfen. Dann übernehmen meine Kolleginnen.« Zehn bis fünfzehn Prozent der Täter können mit Hilfe von Phantombildern ermittelt werden. Wird ein Täter gefasst, vergleichen die Polizeigrafiker ihr Porträt mit dessen Foto. Eine gewisse Ähnlichkeit können sie fast immer feststellen, aber manchmal ist diese sogar überwältigend. Dann haben sie optimal gearbeitet. Selbst wenn es nicht ihr Phantombild war, das zur Ergreifung des Täters führte, sind sie in einem solchen Fall doch ungemein zufrieden mit sich. »Handwerklicher Ehrgeiz«, lacht...

Wenn Sie ein Abo haben, loggen Sie sich ein:

Mit einem Digital-, Digital-Mini- oder Kombi-Abo haben Sie, neben den anderen Abo-Vorteilen, Zugriff auf alle Artikel seit 1990.