Johannes und der Strichcode

Martin Leidenfrost besuchte moldawische Großmütter, die mit Gott gegen den biometrischen Ausweis kämpfen

  • Martin Leidenfrost
  • Lesedauer: 4 Min.

Eigentlich wollte ich mich mit jenen moldawischen Omas verbrüdern. Ich hörte vor Jahren von ihnen, als mir in der nächtlichen moldawischen Hauptstadt ein Zeltlager vor einer Kirche auffiel. Meine moldawischen Freunde erklärten kichernd: »Da drin schlafen Omas, die gegen die satanischen Nummern in den neuen Pässen protestieren.« Später hörte ich von einem Teilsieg der christlich-orthodoxen Gläubigen, der Staat gewährte ihnen eine Ausnahme, sie wurden von der neuen 13-stelligen Identifizierungsnummer befreit. Ohne die Omas zu kennen, sah ich sie spontan als Heldinnen an.

Neugierig klopfte ich an ihrer farblosen Baracke im Zentrum von Kischinau. In der dem Moskauer Patriarchat unterstehenden Gemeinde »Toaca« sind auch ein paar Jüngere aktiv, doch öffnete mir ein moldawisches Großmütterchen wie aus dem Bilderbuch. Sie ließ mich nur ein, weil es winterlich kalt war, verwies mich aber an den Popen. Sie gab mir Exemplare ihrer Zeitschrift auf Rumänisch und auf Russisch. Die Tendenz der Artikel war eher voraufklärerisch; Juden, Papisten, Freimaurer und Amerikaner kamen ganz schlecht weg. Die braunhaarig-braunäugige Alte war bei den Protesten vorneweg marschiert, langsam löste sich ihre Zunge doch.

Ich fragte sie, wie sie ohne einen EU- und US-konformen Pass reisen kann. »Ich kann nirgendwohin reisen, aber wozu auch« - sie wies auf die Ikonenwand - »wenn es hier so schön ist!« Ihre Kinder und Enkel hatten sich solche biometrische Pässe ausstellen lassen. »Gut ist das nicht«, sagte sie, »aber die kommen auch noch drauf«. Da ich schon mal da war, ließ ich sie meinen österreichischen Pass anschauen. Schweigend versenkte sie sich in das vollgestempelte Dokument, strich misstrauisch über alte Visa. Sie überprüfte, ob mein Pass keinen Strichcode hatte. Sie überprüfte, ob mein Pass keine 13­stellige Nummer aufwies. Sie überprüfte, ob in meinen Pass kein Chip eingeschweißt war, mit dem ich weltweit zu orten wäre. Patriotische Gefühle schwollen in meiner Brust - mein Pass ist clean.

Nach endlosem Zögern kramte sie unter dem Pult die Broschüre hervor, welche die Ablehnung solcher ID-Nummern aus der Offenbarung des Johannes begründete. Die Broschüre musste mehrmals eingeweicht worden sein, vielleicht bei der 40 Tage und 1200 Kilometer langen Wallfahrt der Omas entlang der moldawischen Grenze. Persönlich glaube ich, man muss nicht religiös sein, um sich vor der lebenslangen Verwaltung eines Menschen mit Hilfe einer Nummer zu gruseln. Auch die Broschüre warnte vor Entfremdung, Vertierung und Verdinglichung des Menschen. Zitiert wurden Bibelstellen, laut denen die Namen der Geretteten »im Himmel geschrieben sind«. Der Verlust des Namens bedeute »die Herrschaft des Tieres, unter der sich die Menschen in eine entpersönlichte kybernetisierte Biomasse verwandeln«. So hatte ich das noch nicht gesehen.

Bei all meiner Sympathie war mit der Oma nicht gut Kirschen essen. Die historische Begegnung zwischen Patriarch Kyrill und Papst Franziskus auf dem Flughafen von Havanna hatte wenig bei ihr ausgelöst, sie fand den Katholizismus richtig scheiße. Jedes Mal, wenn ich den Orthodoxen ein Kompliment machte, blickte die Frau ihren braunen Mantel runter und wiegte ungläubig den Kopf. Sie warf mir den gregorianischen Kalender und das katholische Kreuzzeichen vor, »das ist doch falsch«. Als ich die Schönheit ihres Kruzifixes lobte, zeigte sie auf die nebeneinander angenagelten Füße: »Und warum stellen ihn die Katholiken mit überkreuzten Füßen dar? So war das doch gar nicht!« Ich hätte einwenden sollen, dass Velazquez im Barock ohnehin zum Viernageltypus zurückgekehrt war; leider wusste ich das noch nicht. Ich fragte sie, welches Land ihrem christlich-orthodoxen Ideal am nächsten komme: »Russland!«

Einmal fragte ich sie, was sie von den Zeltlagern und Massendemos hielt, mit denen seit Monaten gegen das verkommene prowestliche Regime Moldawiens protestiert wird. Zu meiner Überraschung wiegte sie wieder skeptisch den Kopf. »Die haben dem Volk eine Milliarde Dollar gestohlen«, rief ich, »das stört Sie nicht?« Sie zuckte mit den Schultern: »Die werden sich selbst verantworten müssen.« Und fügte hinzu: »Wenn die Menschen hier reicher wären, würden sie dann nicht weniger beten?« Als ich ging, wünschte ich ihr ehrlich alles Gute. Von ein paar Kleinigkeiten abgesehen, finde ich die Omas ohne Strichcode cool.

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