Eingeschränkt ausbildungsreif

In einem Ausbildungsbetrieb diskutierte der Ministerpräsident über Fachkräftegewinnung

  • Wilfried Neiße
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Fachkräfteproblem der brandenburgischen Wirtschaft stand im Mittelpunkt der «ZukunftsTour Jugend», die den Ministerpräsidenten in Schulen und Ausbildungsbetriebe im ganzen Land führte.

In den Mittelpunkt seiner Wirtschaftspolitik hat Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD) das Fachkräfteproblem gestellt. Den Nachwuchssorgen der Wirtschaft war auch eine Tour gewidmet, die ihn in den letzten 13 Monaten durch Schulen und Ausbildungsbetriebe in allen Landkreisen und kreisfreien Städten geführt hat. Bei einem abschließenden Gespräch in dieser Woche mit der Präsidentin der Industrie- und Handelkammer (IHK), Beate Fernengel, und dem Präsidenten der Handwerkskammer- Potsdam, Robert Wüst, kamen die Aktivitäten der Kammern auf diesem Feld zur Sprache.

Der Sachstand: Von brandenburgischen Schulen gehen heute kaum halb so viele Absolventen ab wie 1990. Eltern orientieren ihre Kinder vorrangig auf das Abitur, und wer für die Berufsausbildung überhaupt noch übrig bleibt, wird sich vor allem eine Stelle im attraktiv bezahlten öffentlichen Dienst suchen. Hinten runter fallen dann eben in nicht geringem Maße Unternehmen, die der IHK und den Handwerkskammern angehören.

Als löbliche Ausnahme und «Vorzeigeunternehmen» gilt die bei der Handwerkskammer eingetragene ST Gebäudetechnik GmbH in Potsdam, in der sich Woidke mit Azubis traf. Tom Frick berichtete, dass er nach absolvierter Lehre auch studieren wolle. «Vielleicht überlegen Sie sich das noch mal und warten das Angebot Ihrer Geschäftsführung ab», empfahl ihm der Ministerpräsident.

Mike Kabisch erklärte freimütig, zum Abitur «keine Lust» gehabt zu haben. «Die Schule war mir langweilig geworden.» Das Ausbildungsunternehmen ST Gebäudetechnik ha᠆be er in der Ferienarbeit kennengelernt. Man habe ihn gefragt: «Warum bewerben Sie sich nicht hier?» Die Fortbildung zum Meister «wäre eine Möglichkeit», doch er liebäugle mit einer Ausbildung zum Ingenieur.

Steffen Gollas ist einer von den Abiturienten, die kein Studium, sondern eine Lehre begonnen haben. Er stammt aus Hamburg, wo sich die schulische Berufsorientierung beinahe ausschließlich mit möglichen Studienfächern beschäftigt habe. «Was das Handwerk betraf, so ist da wenig passiert. Das ist schade.»

Geschäftsführer Andreas Neyen hält es für das Beste, wenn man den künftigen Lehrlingen von Anfang an reinen Wein einzuschenken. Inzwischen spiele die Atmosphäre im Betrieb eine größere Rolle als das Gehalt. «Das war vor 20 Jahren undenkbar.» Ausbildungsmessen nannte er einen guten Weg, an Jugendliche heranzukommen.

Bei ST habe jeder Azubi vom ersten Tage an «seinen Vati», sagte Henry Paech, Ausbildungsbeauftragter des Unternehmens. Diese Betreuung gelte für die gesamte dreieinhalbjährige Lehrzeit und habe sich als «toll» herausgestellt«. Da heiße es eben auch mal: »Bring doch die Arbeit mal mit, die du versaut hast«.

Auf die gar nicht so kleine Gruppe von Schülern, die nur unter großen Schwierigkeiten in der Schulzeit bis zur Ausbildungsreife geführt werden, wies Ministerpräsident Woidke hin. Sie bräuchten Starthilfen. Eine gute Vorbereitung und Betreuung sei entscheidend, denn wenn nach drei Wochen ein Abbruch der Lehre folge, dann sei das »die für alle Seiten ungünstigste Variante«.

In der Berufsausbildung habe sich viel geändert, sie beginne inzwischen in der 7. Klassenstufe. »In einigen Schulen wissen die Schüler der 9. Klassen schon sehr genau, was sie wollen«, sagte Woidke. Die Lehrpläne der Schulen seien stärker praxisorientiert als früher. In allen Oberschulen werde verpflichtend der Berufswahlpass eingeführt, der über Stärken und Schwächen des jeweiligen Schülers Auskunft gibt. Entgegen des allgemeinen Trends sei die Zahl der Ausbildungsplätze in Brandenburg um 1,4 Prozent gestiegen.

Handwerkskammerpräsident Robert Wüst lobte den besuchten Ausbildungsbetrieb. Es sei auf dem Gebiet der Nachwuchsgewinnung »sehr aktiv« und zeige, was es bedeutet, Jugendliche zu begeistern. Mit durchschnittlich fünf Beschäftigten seien märkische Handwerksunternehmen oft allerdings wesentlich kleiner, so dass es den Chefs keineswegs leicht falle, in die Schulen zu gehen. Angesichts einer Abbrecherquote von 20 Prozent bei den Lehrverträgen müsse auch gegengesteuert werden. Jobbörsen und Ausbildungsmessen bezeichnete Wüst als gute Möglichkeiten, mit Jugendlichen in Kontakt zu kommen. Ansetzen müsse die Berufsorientierung auch bei der Tatsache, dass erste berufliche Ideen »meist aus dem Elternhaus kommen«.

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