Täter im Nebel

Schuldzuweisungen sind nicht immer so eindeutig zu treffen wie gedacht

  • Lesedauer: 4 Min.

Können wir Mitgefühl für einen Mann empfinden, der dafür verantwortlich ist, dass ein Dutzend Menschen unter heftigen Schmerzen stirbt und noch viel mehr blutend und traumatisiert aus den Trümmern einer Katastrophe geborgen werden? Auf den ersten Blick möchte man das für unmöglich halten. Dennoch habe ich diese Reaktion nach einem Zugunglück im Februar 2016 nicht nur an mir selbst, sondern auch an anderen beobachtet. Es stellte sich heraus, dass der Fahrdienstleiter durch ein Versehen nicht verhindert hatte, dass zwei Nahverkehrszüge auf einer eingleisigen Strecke ineinander rasten, unglücklicherweise in einer Kurve, so dass keiner der Zugführer noch bremsen konnte. »Der arme Mann«, hörte ich um mich herum, aber auch in mir selbst. »Wie kann er jemals wieder seines Lebens froh werden?«

Wir sehen ihn nicht als Täter, sondern als Opfer. Wer sich jemals von der Undurchschaubarkeit und Unübersichtlichkeit der modernen Technik überfordert fühlte und in seiner Ratlosigkeit Fehler machte, kann sich in den Fahrdienstleiter einfühlen. Und da sich der Zorn über eine derartige Tragödie irgendwohin entladen muss, las man in Leserbriefen, der Fahrdienstleiter werde zum Sündenbock für die Fehler der Konstrukteure und Programmierer gemacht, denen es nicht gelungen sei, durch verlässliche Technik den Fehler dieses armen Mannes zu verhindern.

Wenn wir in alten Reiseberichten von Beduinen lesen, die das Kind aus ihrem Stamm als Mordopfer erleben, weil es einem Lastwagen vor den Kühler gelaufen ist, finden wir das primitiv. Es ist uns selbstverständlich geworden, dass Mord etwas anderes ist als ein Verkehrsunfall, in dem sich unglückliche Umstände verknüpft haben. Die Beduinen aber sehen allein das tote Kind und einen Täter.

Wenn der Copilot die Passagiermaschine gegen eine Bergwand lenkt, ist wieder eindeutig, wer die Opfer sind. Aber ist der seelisch kranke Flieger wirklich der Täter, oder ist auch er das bemitleidenswerte Opfer einer Maschinerie, die ihre eigene destruktive Macht nicht kontrollieren kann? Ist die Fluggesellschaft schuldig? Sind es die Ärzte, die den Kranken für tauglich erklärten?

Eine zentrale Belastung des Lebens in der Moderne liegt in seiner Unübersichtlichkeit. Es gibt neben dem, was ich selbst kenne und beurteilen kann, eine ungeheure Menge an Dingen, die mir fremd sind. Allein die Tatsache, dass sie fremd sind, enthält auch eine Bedrohung: was soll ich tun, wenn ich ihnen begegne, wie soll ich mich verhalten, kann ich das mir bereits Bewährte fortsetzen oder mache ich dann einen unverzeihlichen Fehler, werde beschämt oder getadelt?

Der durchschnittlich gebildete Mitteleuropäer hat von einer Unmenge verschiedenster Situationen gehört, gelesen, sie auf Fotografien, in Kino und Television gesehen. Seine tatsächliche Lebenserfahrung ist demgegenüber geschrumpft. Sie hat sich nicht entsprechend der grandiosen Ausweitung der Fiktionen erweitert, sondern wurde wesentlicher Elemente beraubt, weil viele Grenzsituationen - Begegnungen mit Aggression, mit Blut (etwa beim Schlachten der Tiere, von deren Fleisch wir leben), mit Gewalt, schwerer Krankheit, hilflosem Alter und Tod - aus dem Alltag entfernt und in die Obhut von Spezialisten gegeben wurden. Zu einer realistischen Perspektive gehört es, dass in einem Konflikt selten einer nur Täter, ein anderer nur Opfer ist. Diese Betrachtungsweise stärkt die Verhandlungsfähigkeit und trägt zu Lösungen bei, die beiden Parteien gerecht werden. Aber sie ist ungleich mühevoller, ähnlich einer Gleichung mit vier Unbekannten, die auch mehr Überblick erfordert als die Rechnung mit nur einer. Einsicht in Ambivalenzen, in eine komplexe Verteilung von Recht und Unrecht, kostet viel Kraft und Zeit. Die Vorräte an diesen Grundbedingungen einer differenzierten Verarbeitung sind bald erschöpft. Zur Entlastung werden dann Schwarz-Weiß-Malereien und ambivalenzbereinigte Urteile dringend benötigt.

Die Medien verfügen angesichts dieser Aufgabe über zwei Mechanismen: die zynische Überlegenheit über ein verstricktes Paar von Täter und Opfer, die sozusagen »beide gleich schuld« sind, auf der einen Seite, die Glorifizierung der Opfer auf der anderen. Die Vernetzung der Welt durch die Nachrichtenmedien führt dazu, dass die Opferrolle Suchtqualität gewinnt. Plakatives Mitgefühl schwächt die Versöhnungsbereitschaft vor Ort, weil eine schwächere Partei davon ausgeht, dass sie umso eher mit internationaler Hilfe rechnen kann, in je tieferes Elend sie ihre Anhänger durch ihre Unnachgiebigkeit stürzt. Das Modell ist seit Biafra bekannt; unser Wissen darum hat bisher kaum Frucht getragen.

Es liegt für jeden Zeitungsleser und Nachrichtenschauer nahe, immer schrillere Parteinahmen und Urteile an die Stelle einer Lösung zu setzen. Während hier geredet werde, sagt die besonders engagierte Teilnehmerin einer Talkshow, würden in X-Land Menschen sterben. Niemand scheint die Paradoxie aufzufallen, dass sie dem Gesprächspartner mit dem Argument ins Wort fällt, er rede nur. Wer für die eigene Opferrolle plädiert, folgt einer umgekehrten Illusion wie der Kriminelle. Dieser geht davon aus, er werde nicht ertappt; das nach seinem Recht schreiende Opfer hingegen ist überzeugt, der Richter werde seine Position übernehmen. Eine psychologische Gefahr dieser Situation liegt darin, dass der magische Gedanke handlungsbestimmend wird, wer mehr leide, habe auch mehr Anspruch und Aussicht auf Gerechtigkeit.

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