Warum manche Menschen an das Schicksal glauben und andere nicht
Martin Koch
Lesedauer: 6 Min.
Fast jeder kennt solche Situationen: Man findet beim Aufräumen das Foto eines alten Freundes, den man ewig nicht gesehen hat, und kurz danach ruft er an. Oder man summt eine schöne Melodie vor sich hin, schaltet das Radio ein und hört dieselbe aus dem Äther. Zufall? Was sonst, werden viele sagen. Es gibt allerdings auch Erlebnisberichte, die selbst bei hartgesottenen Rationalisten für ein gewisses Unbehagen sorgen: Ein Mann träumt eines Nachts von einem schweren Zugunglück und liest wenige Tage später in der Zeitung, dass ein solches tatsächlich geschehen ist, und zwar genauso, wie er es geträumt hatte. Zufall? In einer Talkshow erzählt eine Frau, dass ihre Wanduhr am selben Tag zu ticken aufgehört habe, an dem ihr Mann im Krieg tödlich von einer Kugel getroffen worden sei. Schicksal? Vorsehung? Oder doch nur - Zufall?
Was ist Zufall überhaupt? Im Brockhaus-Lexikon steht: »Zufall ist das Zusammentreffen von Ereignissen ohne erkennbaren Grund und ohne nachweisbare Absicht.« Wenn etwa ein Kind bei einem Unfall schwer verletzt oder gar getötet wird, fragen sich viele Leute ratlos: »Warum ausgerechnet dieses Kind? Es hätte doch ebenso gut jeden anderen treffen können.« Hätte es wirklich? Nicht, wenn man an das Schicksal oder die Vorsehung glaubt wie der französische Dichter Anatole France, von dem der schöne Satz stammt: »Zufall ist nur ein Pseudonym Gottes, der sich nicht zu erkennen geben möchte«.
Auch der Schweizer Tiefenpsychologe Carl Gustav Jung war überzeugt, dass das Universum von einem »höheren Prinzip« durchdrungen sei, welches Geist und Materie, innere Erfahrung und Außenwelt miteinander verbinde. Danach können selbst Ereignisse, die in keiner ursächlichen Beziehung zueinander stehen, in gewisser Weise aufeinander einwirken. Jung nannte solche akausalen Verknüpfungen »Synchronizitäten« und war bestrebt, ihr Auftreten mit Hilfe der Quantenmechanik zu erklären. Ohne Erfolg, die meisten Wissenschaftler halten Jungs Theorie der Synchronizität heute für ein verfehltes Konzept. So schreibt etwa der Oxforder Evolutionsbiologe Richard Dawkins: »Jeder Tag im Leben eines Menschen ist eine ununterbrochene Folge von Ereignissen und Vorfällen. Was immer wir in einer beliebigen Minute des Tages auch tun, es gibt gewöhnlich ein anderes Ereignis, das man rückblickend als unheimlichen Zufall bezeichnen könnte, wenn es einträte.« Und natürlich würde eine solche Begebenheit fest im Gedächtnis haften bleiben. Hingegen wäre der umgekehrte Fall - eine »Vorahnung«, die sich nicht erfüllt - kaum der Erwähnung wert.
Unterschätzt wird üblicherweise auch die Tatsache, dass das vermeintlich wundersame Zusammentreffen von Ereignissen häufig mit einer Wahrscheinlichkeit geschieht, die weit über null liegt. Betrachten wir als Beispiel das so- genannte Geburtstagsparadoxon: Zwei Personen, die in einem Flugzeug nebeneinander sitzen, stellen plötzlich fest, dass sie am selben Tag Geburtstag haben. Was für ein unglaublicher Zufall, mögen viele jetzt vielleicht denken, denn intuitiv erscheint uns ein solches Zusammentreffen höchst unwahrscheinlich. Ein Trugschluss, wie Mathematiker beweisen können. Es genügen nämlich bereits 23 Personen, damit die Wahrscheinlichkeit, dass mindestens zwei von ihnen am selben Tag Geburtstag haben, größer ist als 50 Prozent!
Da viele Menschen dem Zufall misstrauen, sind sie geneigt, in unübersichtlichen Situationen nach Mustern und Regeln zu suchen, die ihnen das beruhigende Gefühl vermitteln, dass die Welt geordnet und durchschaubar ist. Oft werden sie dabei fündig, denn in der Realität hängen zahlreiche Ereignisse tatsächlich kausal zusammen, auch wenn es mitunter schwierig ist, dies zu erkennen. So haben unsere Vorfahren vermutlich Jahrmillionen gebraucht, bis sie dahinter kamen, dass zwischen der Geburt eines Menschen und einem rund neun Monate zurückliegenden Liebesakt eine ursächliche Verbindung besteht. In ihrer Not machten sie einfach das Gebet vom Vortag für die plötzlich einsetzenden Wehen verantwortlich. In anderen Kulturen glaubt man, dass auf einen Tanz Regen folgt oder auf einen Voodoo-Zauber der Tod.
»Grundsätzlich tut unser Gehirn gut daran, sich nicht zu schnell mit der Erklärung Zufall abspeisen zu lassen«, urteilt der Physiker und Publizist Stefan Klein und verweist auf die produktive Kraft jenes »paranoiden Denkens«. In der Tat werden wissenschaftliche Erkenntnisse oft dadurch gewonnen, dass jemand genau dort einen Zusammenhang bemerkt, wo andere nur voneinander unabhängige Erscheinungen registrieren. Ein berühmtes Beispiel hierfür ist Isaac Newton. Niemand vor ihm hätte sich vorstellen können, dass dieselbe Kraft, die einen Apfel vom Baum zieht, die Planeten um die Sonne kreisen lässt. Andererseits war Newton ein tiefgläubiger Mensch, der den Plan Gottes enträtseln und somit den Zufall aus der Welt verbannen wollte. Wie psychologische Studien nahelegen, hängt es zum großen Teil von der Persönlichkeit eines Menschen ab, ob dieser an das Schicksal oder den Zufall glaubt.
Daran anknüpfend werden Personen, die besonders empfänglich für übernatürliche Phänomene sind, in der psychologischen Literatur als »Schafe« oder »Lämmer«, die weniger Empfänglichen hingegen als »Böcke« bezeichnet. Mit der Intelligenz der betreffenden Personen haben diese merkwürdigen Kategorien übrigens nicht das Geringste zu tun. Sie stammen vielmehr aus dem Matthäus-Evangelium, wo es heißt, dass Christus am jüngsten Tag die Gläubigen von den Ungläubigen trennen werde wie ein Hirte die Schafe von den Böcken. Das Erstaunliche nun ist, dass »Schafe« bzw. »Lämmer« bei psychologischen Experimenten viel öfter als »Böcke« in regellosen Strukturen, etwa in Tintenklecksen, wohlgeordnete Muster und Zusammenhänge entdecken. Und weil sie nicht an den Zufall glauben, unterliegen »Lämmer« bei der Betrachtung der Welt leicht einer Kausalitätstäuschung. Das heißt: Sie stellen im Geiste eine ursächliche Verbindung zwischen Dingen her, zwischen denen es nach wissenschaftlichem Ermessen gar keine Verbindung geben kann.
Woraus aber resultiert die überreiche Fantasie von Menschen, die häufig ein wohltuendes Korrektiv zur nüchternen Weltsicht anderer darstellt? Der Schweizer Neuropsychologe Peter Brugger hat hierzu eine interessante Beobachtung gemacht: In der rechten Hirnhälfte von »Lämmern« ist der Spiegel des Botenstoffs Dopamin deutlich erhöht. Was würde nun geschehen, fragte sich der Forscher weiter, wenn man bei »Böcken«, die in Zufallsmustern auf einem Computerbildschirm zuvor keinerlei Gesichter erkannt hatten, den Dopaminspiegel im Gehirn ebenfalls steigerte? Er fand die Antwort im Experiment: Auch die zunächst notorischen Skeptiker sahen plötzlich überall Gesichter auf dem Bildschirm. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die Einteilung der Menschen nach Matthäus eine durchaus fließende ist. Besonders in emotional aufwühlenden Situationen, die mit einem veränderten Hirnstoffwechsel einhergehen, werden aus ewig zweifelnden nicht selten gläubige Menschen, die ihr weiteres Schicksal lieber einer »gütigen Vorsehung« anvertrauen als den unberechenbaren Launen des Zufalls.
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