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Wurst am Stengel und Ultramatrix
Ein deutsches Geschichtsbuch: »Die DDR war ein Teil meines Lebens«
Die Idee war schlicht und einfach, das Produkt ist spannend und solide. Es begann mit einer Anzeige in ostdeutschen Zeutungen. Unter dem Stichwort »Die DDR war ein Teil meines Lebens« rief der Autor des nun erschienenen gleichnamigen Buches, ein Westberliner, ehemalige Bürger der ostdeutschen Republik auf, ihm ihre Erinnerungen kundzutun. Die Ältesten der von ihm Interviewten sind 1918, die Jüngsten 1971 geboren. Der Band beginnt mit dem Wehrmachtsoffizier, der in sowjetischer Kriegsgefangenschaft vom Saulus zum Paulus wurde, später in der NDPD und DSF (Deutsch-Sowjetische Freundschaft) tätig war, und endet mit dem »Eisfahrer«, der am Tag der Währungsunion 1990 seinen Facharbeiterabschluss gemacht und heute einen Dreivierteljahres-Job hat: Eisdielen beliefern.
Die Erinnerungen sind so unterschiedlich, wie die Menschen in der DDR unterschiedlich waren - eben keine homogene Masse, indoktriniert, dogmatisiert und diszipliniert, wie manche West-Autoren weiszumachen versuchen. Hier ist O-Ton wiedergegeben, nichts geglättet oder geschönt, da wird geredet respektive geschrieben, wie einem der Schnabel gewachsen ist. Der ehemalige Pressesprecher formuliert freilich anders als der Bautischler. Alle Äußerungen scheinen ehrlich und aufrichtig. Klarnamen werden nicht genannt, aber vielleicht wird der eine oder andere den ehemaligen Kommilitonen oder Kollegen beim Lesen dieses Buches »enttarnen«.
Es sind keine Feinde der DDR, die sich hier äußern; sie haben dieses Land als ihre Heimat und Sozialismus als »eine gute Sache« emfpunden. Die Älteren beunruhigten die Ergeignisse um den 17. Juni 1953, weil - wie der Schulleiter, gelernter Maurer, formuliert - »es im Westen ein starkes Interesse gab, die "Sowjetzone" sozusagen "heim ins Reich" zu führen«. Auch den Bau der Mauer empfand dieser »als eine notwendige Abgrenzung, um das "gesellschaftliche Experiment DDR" für einen gewissen Zeitraum zu stabilisieren«. Wer an dieser Stelle vermutet, dass sich hier wieder nur »Stalinisten« zu Wort melden, irrt. Die Kritik an vielem in der DDR, von Dummheit bis Menschenrechtsverletzung, ist gründlich und erfahrungsgestützt. Dem Professor für Meterologie und Geophysik missfiel, dass man andere philosophische und politische Auffassungen auf administrative Weise zu unterdrücken versuchte: »Diese fehlende Streitbarkeit und der Ersatz politischer Diskussion durch die Abschirmung äußerer Einflüsse widersprachen meinem wissenschaftlichen Selbstverständnis.« Der Wirtschaftsfachmann beklagt, dass die Vorschläge an Günter Mittag und die Staatliche Plankommission zum Abbau der Disproportion zwischen steigenden staatlichen Subventionen des Grundbedarfs und der zurückbleibenden Arbeitsproduktivität auf taube Ohren stießen: »Man fühlte sich zunehmend in seiner geistigen Tätigkeit entwertet, nutzlos und nicht mehr ernst genommen. Mehr und mehr geriet ich in eine berufliche und geistige Existenzkrise.« Der bereits erwähnte junge »Eisfahrer« erinnert sich, ausgerechnet im Staatsbürgerkunde-Unterricht »die aufregendsten Stunden meiner gesamten Schulzeit« erlebt zu haben: »Alle wußten wir: Der da vorne will uns jetzt "überzeugen", doch kannten wir tausend Beispiele von unseren Vätern und Müttern aus den Betrieben, um ihm das Gegenteil zu beweisen. Zum Beispiel berichtete die Betriebszeitung, daß der Plan nicht erfüllt wurde, während in der Bezirkszeitung von hundertprozentigen Ergebnissen die Rede war.«
Die hier Zurückblickenden, ob jung oder alt, offenbaren allesamt ein gesundes Selbstbewusstsein; wer stolz auf seine Leistungen und Kreativität ist, der bekundet es. So lässt der Hochfrequenztechniker (der nach einem Streit mit SED-Funktionären um Lohn und Norm aus der Partei gestrichen wurde) wissen, dass »wir in der Lage gewesen waren, Bauelemente zu produzieren, die meines Erachtens auf der Welt einmalig gewesen wären: Wir haben eine Ultramatrix für Kameras entwickelt; wir haben eine Restlichtmatrix entwickelt, die mit einem Dreitausendstel Lux auskommt ... Wir haben Sensorbauelemente entwickelt, die man für die Infrarotzielsteuerung hätte nehmen können, wir haben Halbleiterlaser und Sublaser entwickelt ...« Und jetzt kommt's: »... das hätten wir alles produzieren können, wenn wir die Anlagen dazu gehabt hätten«! Nach der Vereinigung wurde das Werk liquidiert, »da ist bloß die Bildröhre übriggeblieben, und die haben die Japaner gekauft«. Ähnliches vermeldet der Filmregisseur, der eigentlich »staatlich geprüfter Landwirt« war und sich noch gut an Chruschtschows »Wurst am Stengel« und den kampagnenmäßig forcierten großflächigen Anbau von Mais in der DDR erinnern kann. Er beteuert: »Politisch habe ich mich nie verbiegen müssen.« 1990 in den Vorruhestand geschickt, obwohl er noch so viele Themen für neue Filme im Kopf hatte, klagt er an: »Das DEFA-Dokumentarfilmstudio wurde nicht abgewickelt, sondern regelrecht ausgeplündert, würde ich sagen, von Käufern aus Westberlin ...«
Vertreten sind hier u. a auch eine Russisch-Neulehrerin, eine Bürgermeisterin, ein Post-Hauptrat und ein Verwaltungsjurist, eine Restaurantleiterin und ein Maschinenschlosser, ein Strafgefangener und ein Stasi-Ausbilder. Natürlich auch ein NVA-Offizier, der das »Kutscher-Du« in der Volksarmee unpassend fand: »Der Vorgesetzte musste gesiezt werden, und der Untergebene wurde geduzt. Kultiviertere Vorgesetzte hatten diesen erniedrigenden Sprachgebrauch nicht benutzt.«
Das ist erlebte und gelebte Geschichte. Das muss man lesen, danach kann man streiten - oder sein Urteil über Springers Gänsefüßchenland revidieren. Jedenfalls ist dieses Buch hochinteressant und durchaus als Weihnachtsgeschenk zu empfehlen. Ich schätze, dass 80 Prozent der ehemaligen DDR-Bürger ihr Leben, ihre Erfahrungen, ihr Enttäuschungen und ihre Hoffnungen hier widergespiegelt finden. Gewünscht hätte man sich allerdings in diesem Oral-History im besten Sinne bietenden Band einige illustrative Beigaben; einzig der Buchumschlag (siehe Abb.) bietet Schnappschüsse aus dem DDR-Alltag. Sicher, jedem, der in diesem Land lebte, werden beim Lesen der Berichte die Transparente, die Betriebe, die Konsum-Läden, die Wohnungen, die Parteiversammlungen, die Kundgebungen und Demonstrationen...
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