Neue Wege im Sumpfland

Das Warthebruch in Polen ist eines der letzten Vogelparadiese in Europa. Ausgerechnet dort erhoffen sich manche einen Aufbruch - nach Nowa Amerika

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Wer Kostrzyn mit dem Zug erreicht und vom Bahnsteig einen Trampelpfad durch das Goldruten-Gestrüpp nimmt, erhält einen Vorgeschmack auf die Urwüchsigkeit, von der die Stadt umgeben ist. Der Bahnhof selbst wurde unlängst renoviert. Außen historischer roter Ziegel, innen glänzen Steinplatten, strahlen eine kühle Noblesse aus. Dort, wo sich einst die Wartenden im hallenartigen Bahnhofscafé die Zeit vertrieben, versorgen heute Kioske und Ticketautomaten die Reisenden.

Gegensätze von Altem und Neuem gibt es überall in Kostrzyn. Herrschaftlich erbaute Häuser stehen neben bröckelnden Fassaden und vernachlässigten Brachen, die sich bis zu den Ufern der Warthe und der Oder erstrecken. Beide Flüsse sind bei Hochwasser nur schwer zu bändigen.

Unmittelbar am östlichen Stadtrand beginnt der Warthedeich. Nach einigen Hundert Metern verläuft er schnurgerade am Fluss entlang und gibt den Blick über eine weite Ebene frei. Nach Süden hin kann das Wasser, wenn es ansteigt, ungehindert über die Ufer treten. Dieses weitläufige Überflutungsbecken wurde vor 15 Jahren zum Nationalpark erklärt. Seitdem hat sich der Mensch dort weitgehend zurückgezogen. Kanäle versanden, Weidezäune fallen um. Für die Vogelwelt ist das ideal, rund 270 verschiedene Arten leben in diesem Schutzgebiet.

Nachdem ich einige Kilometer auf dem Deich zurückgelegt habe, ist der Schornstein der Papierfabrik in Kostrzyn nur noch ein Strich in der Landschaft. Immer wieder führen Wege von dem Wall ins Dickicht. Angler benutzen sie, um ans Flussufer zu gelangen. Eine dunkle Matschspur schlängelt sich vorbei an Erlen und Weiden. Frösche retten sich vor mir, dem Eindringling, ins Wasser. Unentwegt schwirrt es in der Luft. Hornissen, Wespen, Bienen - Fliegen, Mücken, Rinderbremsen. Der polnische Literat Andrej Stasiuk schrieb einmal: »Ohne Welt, ohne Vielfalt der Gestalten ringsum, ist der Mensch doch nur ein Spiegel, der nichts reflektiert.«

Mit behäbigen Flügelschlägen überquert ein Seeadler den Fluss und landet in einiger Entfernung auf einer knorrigen Weide. Unzweifelhaft ist er der König der Warthesümpfe. Dabei ist sein Flug alles andere als majestätisch. Geradezu ungelenk wirkt es, wie er sich an den Bäumen vorbeischlängelt.

Um mehr über diesen Landstrich zu erfahren, solle ich Błażej Kaczmarek treffen, empfiehlt mir der Kulturwissenschaftler Michael Kurzwelly. Błażej Kaczmarek ist kein Biologe, sein Gebiet ist nicht die Tier- und Pflanzenwelt, sondern er ist Stadtführer in Słońsk, rund 15 Kilometer von Kostrzyn entfernt. Er setzt sich dafür ein, die wechselhafte Geschichte des 3000-Einwohner-Ortes am Rande des Nationalparks in Erinnerung zu halten - auch wenn dies für einige unbequem ist. Denn Słońsk hieß einst Sonnenburg. Der Impuls, die Spuren der Deutschen abseits der KZ-Gedenkstätte auszulöschen, ist noch immer weit verbreitet.

Entgegen vieler Einwände hat Kaczmarek auf dem verwüsteten deutschen Friedhof einige alte Grabsteine erhalten und ein Lapidarium errichtet. »Ich komme aus Kaschubien«, sagt er und zieht an seiner Zigarette. »Da zerstört man keine Friedhöfe.« Błażej Kaczmarek, der Mann mit weißem Haar und freundlichem Gemüt, kann durchaus resolut sein. Seit mehr als vier Jahrzehnten lebt er in Słońsk, arbeitete bis zu seinem Ruhestand als Sozialarbeiter im Gefängnis. Nun führt er Besucher durch die vom preußischen Baumeister Karl Friedrich Schinkel umgebaute Kirche und zeigt die benachbarte Schlossruine des Johanniterordens. Er erzählt routiniert und macht bisweilen Pausen, damit Michael Kurzwelly übersetzen kann.

Kurzwelly selbst ist ein Grenzgänger - Künstler und Kulturwissenschaftler mit Lehrauftrag an der Viadrina Universität in Frankfurt (Oder). Oder wie er sagt: »Słubfurt«. Denn Słubice am anderen Ufer der Oder bezieht er stets mit in die Stadt ein. Sich selbst bezeichnet er als »Konstrukteur von Wirklichkeiten«. Seine Projekte klingen bisweilen etwas verrückt. So hat er ein Land mitbegründet, das wohl auf keinem Globus zu finden ist: Nowa Amerika heißt es und erstreckt sich beiderseits der deutsch-polnischen Grenze. Es existiert ein Parlament in einer alten Turnhalle, eine Universität, eine Fahne sowie eine eigene Währung. Mehr als 150 Nowa Amerikaner gibt es derzeit, unter ihnen Lehrer, Künstler, Historiker und Theater- und Filmemacher. Sie organisieren gemeinsame Kulturveranstaltungen, führen Workshops zu Migration an Schulen durch oder leisten vor allem auf deutscher Seite eine aktive Flüchtlingshilfe. Ziel ist es, grenzüberschreitend eine Bürgergesellschaft zu leben, in denen Herkunft keine Rolle mehr spielt.

Der Stadtführer Błażej Kaczmarek ist auch ein Mitstreiter bei Nowa Amerika. Er führt über ein verwaistes Gelände zwischen Kirche und Schloss, das einmal der Marktplatz war. Fischer, die von dem lebten, was die Sümpfe hergaben, boten dort ihren Fang an. Landwege gab es nur wenige - wollten die Sonnenburger nach Küstrin, dem heutigen Kostrzyn, so fuhren sie bis weit in das 19. Jahrhundert mit dem Boot flussabwärts.

Wir dagegen nehmen das Auto und besuchen Izabella Engel. Sie betreibt außerhalb des Ortes an einer alten Pumpstation eine Pension. Über Izabella Engel laufen die Fäden der Vogelrepublik zusammen, einem Netzwerk von Ornithologen und Naturliebhabern. Sie setzt sich für einen sanften Tourismus ein und richtete vor einer Weile Fahrradwege rund um Słońsk ein. Auf den Spuren des Milans oder der Graugans kann man am Rande des Nationalparks die Gegend erkunden. »Es ist nicht ganz einfach, solche Routen zusammenzustellen«, erzählt sie, »Unsere Feldwege sind nämlich nicht immer gut zu befahren.«

Das stimmt wohl. Ich erinnere mich, wie ich auf einem dieser holperigen Wege, dem Wiedehopf-Pfad, unterwegs war. Mit etwas Glück soll der seltene Vogel, der bei Erregung einen Federkamm aufstellt, einige Kilometer südlich des Nationalparks anzutreffen sein. Einer der Lieblingsorte des Wiedehopfs sei das Dörfchen Czarnów, heißt es in einer von Izabella Engel erstellten Tourismusinformation. Kiefernwälder und Wiesen prägen die Landschaft hier, eine sanfte Erhebung bettet den Ort ein. Auffallend sind in Czarnów neben der Kirche mit dem kirschroten Zwiebelturm die vielen Weißstörche. Es gäbe sicherlich viele Plätze zum Nisten, doch der Storch scheint die Nähe zum Menschen zu suchen und lässt sich bevorzugt auf Laternenmasten und Schornsteinen nieder. Scheuer dagegen ist der Wiedehopf. So sehr ich auch nach ihm Ausschau halte, ich entdecke ihn nicht.

Dafür brettert ein paar Hundert Meter außerhalb des Dorfes ein Holzlaster auf einem sandigen Feldweg direkt auf mich zu - als wäre der Fahrer vom Teufel geritten. Eilig gehe ich in Sicherheit. Nachdem sich die Staubwolke verzogen hat, sehe ich am Wegesrand tatsächlich einen dicken Kiefernstamm, der vom Laster herunter gefallen ist. Kurz vor dem Ortseingang hält der Fahrer und ein Arbeiter lädt die Stämme mit einem Kran auf einen anderen Lastwagen. Ich nicke den Männern zu. Der Fahrer raucht, schaut in meine Richtung, aber nichts regt sich in ihm.

Auf unserer Fahrt mit Błażej Kaczmarek kommen wir in eine Gegend, die Nowa Amerikaner in besonderer Weise inspiriert hat. Unweit des Nationalparks säumen kleine Siedlungen mit zumeist einfachen Bauernhäusern die Feldwege. Es sind die einstigen Kolonistendörfer, gegründet im 18. Jahrhundert, als der Preußenkönig Friedrich II. große Teile des Sumpfes trockenlegen ließ.

Bauern, die sich ansiedelten, schenkte er Äcker und befreite sie von der Steuer. Ein paar Tausend Siedler folgten diesen Anreizen. Nicht wenige von ihnen zogen das Warthebruch dem Auswandern nach Übersee vor - auch wenn viele von ihnen offenbar an Fernweh litten, denn ihre neu errichteten Dörfer hatten auffallend oft exotische Namen: Sie hießen Florida oder Pensylvanien, Hempschire und Louisenwille. Der Landstrich wurde schließlich Neu Amerika genannt. Inzwischen tragen die Siedlungen allesamt polnische Namen. Aber die Nowa Amerikaner erinnerten sich an die Pioniere von einst, als sie ihr Utopia gründeten.

Mit einer Treidelfähre setzen wir über die Warthe. Geräuschlos gleitet sie an einem Seil durch das Wasser, nur das Radio des Fährmanns dudelt. Viel zu tun hat er nicht, seine Angel liegt griffbereit. In Witnica, einer Kleinstadt am Nordufer der Warthe, führt Błażej Kaczmarek zu einem weitläufigen Park, an dem der Heimatforscher Zbigniew Czarnuch Fundstücke aus vergangenen Epochen ausstellt - preußische Meilensteine, alte steinerne Wegweiser, eiserne Räder aus historischen Maschinen. Als Akt gegen das Vergessen. Zudem hat er ein Mahnmal errichtet, eine große Stele, um an das Leid der Vertreibung zu erinnern.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden nicht nur die Deutschen über die Oder gejagt, sondern auch innerhalb Polens fand eine groß angelegte Umsiedlung aus den östlichen Gebieten statt, die der Sowjetunion zugeschlagen wurden. »Unter den Binnenvertriebenen herrschte über viele Jahre große Unsicherheit«, weiß Michael Kurzwelly. »Viele hatten Angst, dass bald wieder jemand kommt und ihr Hab und Gut wegnimmt.« Russischstämmige Lemken aus den Karpaten fremdelten noch lange, nachdem sie in die Wartheniederungen geschickt wurden. Einst waren sie Bergbauern, jetzt sollten sie im Sumpf leben. Ihr Dasein glich oft einem Provisorium, das für sie jahrzehntelang zum Dauerzustand wurde.

Einige Stunden später erhebt sich unweit der Chaussee von Słońsk nach Kostrzyn ein Silberreiher aus dem Wasser und fliegt durch die blaugrüne Landschaft. Er ist ein schneeweißer, schlanker und geradezu graziöser Vogel. Eigentlich leben Silberreiher in Südosteuropa, doch seit einigen Jahren kommt er auch im Warthebruch vor. Verwunderlich ist das nicht. Bei Vögeln gilt das Wandern als ganz natürlich.

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