Die Sache mit den ruhigen Tagen

Tag 4: Diffuser Bereitschaftsmodus

  • Sebastian Bähr
  • Lesedauer: 4 Min.

Weiße Striche bäumen sich auf und zerfallen. Zu Hunderten, Tausenden, Millionen, in einem sich ständig bewegenden Gebilde. In keinster Weise ist ein Muster zu erkennen. Vielmehr handelt es sich um ein chaotisches Gekräusel auf blauer Leinwand, das den Augen ständige Streiche spielt. Nach einigen Minuten beginnt mein Kopf zu schmerzen, ich setze das Fernglas wieder ab. Die Umrisse der libyschen Küste sind auch ohne Hilfsmittel am Horizont zu erkennen. »Dort, direkt geradeaus«, sagt der italienische Fotograf Marco und zeigt plötzlich auf einen weißen Punkt im Meer. Nach einigen Minuten der Suche finde ich ihn, muss mich aber konzentrieren, um ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Tatsächlich: Ein dünner weißer Strich, der etwas stärker glänzt als die anderen um ihn herum. Die anderen Striche, die Wellen, verschwinden nach einigen Sekunden. Doch dieser bleibt an seiner Stelle. Er wird langsam größer. Es dauert nicht lange und die Brücke ist ein zweites Mal voll. Der Wellengang ist heute stärker, eine Überquerung des Mittelmeers weitaus gefährlicher. Ein Meter Höhe ist normal, danach wird es für die Flüchtlinge kritisch.

Eine sich hinziehende halbe Stunde später blicken Dutzende Augen ernüchtert ins Wasser. Dort treiben seelenruhig die Reste eines alten, verlassenen Schlauchbootes am Schiff vorbei. Schnell wird klar: Wahrscheinlich handelt es sich sogar um jenes, von dem die »MS Aquarius« am Dienstag 142 Menschen gerettet hat. »Sorry für die Benzinverschwendung«, sagt René, der das Gefährt als erster entdeckt hatte, mit einem holprigen Lachen. Einige schütteln frustriert den Kopf, die meisten gehen nach und nach schweigend zum Frühstück. Übrig bleiben nur ein »SAR«-Mitglied, das für die aktuelle Suchschicht eingeteilt ist, und der Kapitän. »Früher haben Fischer manchmal benutzte Schlauchboote zurückgebracht und erneut an die Schlepper verkauft«, erklärt Anton, der bereits auf dem Rettungsschiff »Sea Watch« gearbeitet hat. Später seien die Rettungsmannschaften dazu übergegangen, nach dem Einsatz die alten Boote zu markieren und zu zerstören. Manchmal wollen sie aber einfach nicht untergehen.

Für die »MS Aquarius« folgt ein ruhiger Tag. Das Schiff pendelt an der 25-Meilen-Grenze zwischen Westen und Osten behutsam hin und her. Das Deck wird gründlich geschrubbt, die Sucher an den Ferngläsern versuchen sich mit Geplauder von der eintönigen Arbeit abzulenken. Mit fortschreitender Stunde wird es immer unwahrscheinlicher, dass noch ein Flüchtlingsboot gesichtet wird. Die entscheidende Zeit ist in den Morgenstunden. »Die Leute kennen nur die Rettungen aus dem Fernsehen, aber die meiste Zeit warten wir eigentlich«, sagt die aus England kommende Freiwillige Mary. Meine Anspannung beginnt nachzulassen. Ich hole den verlorenen Schlaf der letzten Nächte nach, verbleibe aber wie auch die anderen in einem diffusen Bereitschaftsmodus. »Ärzte ohne Grenzen«-und »SAR«-Teams machen noch ein paar kleine Übungen. Am Abend trifft sich der inoffizielle »Fitness«-Club. Nicht ohne Grund: Das Essen ist hervorragend, die beiden Köche Darwin und Adrian versorgen die Crew mit einem üppigen Rund-um-die-Uhr-Buffet. Zum Aufrechterhalten der mentalen Stabilität ist eine gute Ernährung offensichtlich von großer Bedeutung.

Beim Abendessen holt einen die Realität aber auch schnell wieder ein. »Einige der geretteten Frauen haben von Vergewaltigungen berichtet«, sagt mir die Ärztin Sarah mit emotionsloser Stimme. Ich erfahre, dass »Ärzte ohne Grenzen« nicht nur die Krankheiten und Verletzungen der Flüchtlinge behandelt, sondern auch alle Frauen nach ihrer Geschichte befragt. Traumatische Erfahrungen hätten sie fast alle gemacht, auch Entführungen würden häufig vorkommen. »Die Fahrt mit dem Schlauchboot hat für mich etwas symbolisches«, sagt die Ärztin. »Viele Frauen versuchen mit der Fahrt ihr altes Leben und die schrecklichen Erfahrungen hinter sich zu lassen. Ich bezweifle jedoch, dass ihnen das gelingt.« Sarah wendet sich wieder einem Gespräch am Nebentisch zu. Dort diskutiert man, welcher Kuchen am besten schmeckt. Auch die ruhigen Tage sind eigentlich keine ruhigen, geht es mir durch den Kopf. Wenn man es denn zulässt.

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