Vom Ehrenamt zum Schimpfwort

Parasiten - die Genesis eines biologischen Begriffs

Fremdwörterbücher nennen zwei Bedeutungen des Begriffs Parasit: 1. bezeichne er ein Lebewesen, das von einem anderen lebt und dieses dadurch beschädige oder beeinträchtigt, 2. jemanden, der auf Kosten anderer lebt. Weiter wird die griechische Herkunft des Wortes erwähnt. Der Schriftsteller Ulrich Enzensberger ist der Geschichte des Begriffs nachgegangen, belegt mit vielen Zitaten, zu deren Quellen antike Komödien und Satiren ebenso gehören wie moderne molekularbiologische Texte. Herausgekommen ist ein Streifzug durch die Geschichte von Wissenschaft und Gesellschaft, Biologie, Ideologie und Politik, der teils amüsant, teils bedrückend, immer aber fesselnd ist. Er zeigt, wie im Laufe der Zeit aus der Bezeichnung für den Inhaber eines ehrenwerten Amtes einerseits ein biologischer Fachausdruck und andererseits ein Schimpfname wurde, die hintergründig korrespondieren. Um nur einiges anzudeuten: Im alten Griechenland war ein Parasitos, ein Mitessender, ein gewählter religiöser Funktionär, der die Speisen für das kultische Opfermahl einzusammeln hatte und dafür zusammen mit dem Priester an der Bewirtung der Götter teilhaben durfte. Später nannte man Parasiten auch die Minderbemittelten, die zu den Gastmählern der Vornehmen und Reichen hinzugezogen wurden und zur Unterhaltung der Gastgeber beizutragen hatten. Damit wurde der Parasit auch zur Komödienfigur. Mit dem Aufkommen der protestantischen Arbeitsethik in der Reformationszeit wurden »Parasit« und das synonym verwendete Wort »Schmarotzer« zur moralisch diffamierenden Bezeichnung für alle, die ihr Brot nicht im Schweiße ihres Angesichts verdienen wollten oder konnten. Daran schließt auch der Sprachgebrauch von Wirtschaftsliberalen und von Marx-Anhängern an. Zu Marxens Wortschatz gehörten sie allerdings nicht und sein Schwiegersohn Paul Lafargue schockierte 1884 gar mit einer Schrift »Das Recht auf Faulheit«.
Seit der Epoche der Aufklärung wurden auch bestimmte Pflanzen und Tiere Parasiten genannt, Sommerwurz und Mistel beispielsweise, Bandwurm, Laus und Floh. Später kamen Bazillen und andere krankheitserregende Mikroorganismen hinzu. Was sie charakterisiert, wurde dann auch widersinnig mit den menschengestaltigen Parasiten assoziiert - widersinnig, weil der biologische Begriff des Parasitismus als eine ökologische Beziehung zwischen Lebewesen verschiedener Arten definiert ist und nicht auf die Beziehungen zwischen den Angehörigen einer Art, also auch nicht auf Menschen, angewandt werden kann. Aus der Insektenkunde wurde das zunehmend inhumane Vokabular noch durch »Schädling« bereichert. Aus dieser zoologischen Disziplin stammt auch das Wort »Sozialparasit«. Gegen die tierischen Parasiten und Schädlinge wurde die »Schädlingsbekämpfung« entwickelt, z.B. mit Blausäure. 1789 nannte der Abbé Grégoíre die Juden »parasitische Pflanzen«. Später verkündete Adolf Hitler in »Mein Kampf«, der Jude sei »ein Parasit im Körper anderer Völker«. In den Gaskammern der Nazis wurde der Massenmord mit Blausäure betrieben. In der UdSSR wurden »Parasiten« und »Schädlinge« erschossen oder in Lager verbracht.
In Verbindung mit der Darstellung derartiger Zusammenhänge erfährt der Leser viel über Kultur- und Sozialgeschichte, über Geschichte der Ökologie und der Parasitologie, über Urzeugungs- und Vererbungsvorstellungen. Leider sind die Recherchen des Autors zu wenigen Fragen ausnahmsweise nicht gründlich gewesen, so zur Lamarckschen Entwicklungstheorie oder zum Vorwurf der Ergebnisfälschung gegen den österreichischen Biologen Paul Kammerer. Zu letzterem wusste Arthur Koestler in seinem Kammerer-Buch »Der Krötenküsser« schon manches besser. Was von Enzensberger vor allem zu lernen ist, ist wohl, dass Begriffe ihre Geschichte haben und mit Wörtern kritisch umzugehen ist, denn sie haben etwas mit Gedanken zu tun und Gedanken mit Taten und Untaten.
Ulrich Enzensberger: Parasiten. Eichborn ...

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