• Thema: Zensur

Gefährlicher Heine, harmloser Hitler?

Kirchenhistoriker Hubert Wolf über den vatikanischen Index der verbotenen Bücher

Über 400 Jahre lang wurden Schriften, die dem Vatikan missfielen, verdammt und auf einen »Index der verbotenen Bücher« gesetzt. Katholiken war es bei Strafe der Exkommunikation verboten, solche Werke zu lesen oder zu verbreiten. 1966 wurde der Index abgeschafft. Seit 1998 ist das Archiv der vatikanischen Glaubenskongregation, das die Akten der Zensurverfahren beherbergt, geöffnet. Hubert Wolf, Jg. 1959, Kirchenhistoriker an der Universität Münster, leitet eine Forschungsgruppe, die erstmals die geheimnisumwitterten Unterlagen systematisch erforscht. Als einer der ersten Wissenschaftler überhaupt erhielt er die Erlaubnis, im Archiv der Römischen Inquisition zu arbeiten. Sein unlängst erschienenes Buch »Index - Der Vatikan und die verbotenen Bücher« (C.H. Beck, 330 S., 22,90 EUR) bietet einen Blick hinter die Kulissen. Mit dem Wissenschaftler sprach André Hagel.

ND: Ziel von Zensur ist, entweder eine unerwünschte Meinung in eine genehme Form zu bringen oder, wenn dies nicht funktioniert, die unerwünschte Meinung zu unterdrücken und nach Möglichkeit aus der Welt zu schaffen. Wen hatte die Zensur des Vatikan mit dem Index der verbotenen Bücher im Visier?
Hubert Wolf: Im Grunde genommen könnte man sagen, die Geburt des Index erfolgte aus dem Geist der Gegenreformation. Luther hat erstmals die medienpolitischen Möglichkeiten des Buchdruckes genutzt. Damit wurde das Wissensmonopol der katholischen Kirche, das zugleich ein Wahrheitsmonopol war, entscheidend gefährdet. Bis zu jener Zeit lagerten die wichtigen Wissensbestände in Klosterbibliotheken. Dort wurden sie in den Skriptorien handschriftlich vervielfältigt; und es dauerte oft ein ganzes Jahr, ein Werk abzuschreiben. In dem Moment, in dem der Buchdruck für theologische Streitschriften genutzt wurde, musste sich der Blick der römischen Zensur gerade hierauf richten. Sie setzte sich aber erst relativ spät durch.
Einerseits hatte man 1515, also vor der Reformation, in Rom den Buchdruck noch als Gottesgeschenk bezeichnet, weil damit bildungshungrige Männer aller Stände die Möglichkeit hätten, schnell und preiswert an Wissen heranzukommen. Bis dato war das nicht möglich gewesen; nur Menschen mit viel Geld hatten sich Bücher leisten können. Andererseits bezeichnete man den Buchdruck als Teufelswerk, denn das Medium Buch ließ sich natürlich auch missbrauchen, um »falsche« Inhalte zu transportieren. 1542 kam es dann zur Gründung der Heiligen Römischen und Universalen Inquisition, 1559 erschien der erste Index verbotener Bücher. Von da an begann der Vatikan, das Buch als Medium neuzeitlicher Wissenskultur zu kontrollieren.
Es ging von Anfang an um eine Totalkontrolle des Buchmarktes, weil auf der Basis des theologischen Wahrheitsverständnisses Roms keine andere abweichende literarische oder wissenschaftliche oder auch belletristische Wahrheit denkbar war.

Ist die Institution, die hinter einem solchen totalen Zugriff steht, eine totalitäre Institution?
Ein Anspruch des totalen Zugriffes bestand sehr wohl. Dieser Anspruch aber ist gescheitert. Das haben übrigens kluge Leute in den entsprechenden Kongregationen des Vatikans sofort gesehen. Bereits 1571, im ersten Jahr der eigens für die Buchzensur eingerichteten Indexkongregation, schrieb einer der dort Tätigen an den Rand eines Papiers, salopp übersetzt: »Was soll's? Drei Bücher habe ich abgearbeitet. Neun neue liegen hier vor. Und wenn ich die weg habe, werden es 27 sein.« Hier kommt sehr schön das Hydra-Motiv zum Tragen.

Das neunköpfige Seeungeheuer in der griechischen Mythologie, deren abgeschlagene Köpfe immer wieder nachwuchsen ...
Ja, aber was heißt nun totalitär? Totalitär ist vor allem ein politischer Begriff des 20. Jahrhunderts, mit dem man der Kirche in all ihren historischen Ausformungen in keiner Weise gerecht wird. Es ist außerdem erstaunlich, dass die Inquisition nicht gleichgeschaltet und vorhersagbar agierte, nicht nach einem starren Mechanismus. Nicht jedes Buch, das angezeigt wurde, wurde auch automatisch verurteilt. Das ist nur eine Fama, die man mit der Inquisition und dem Index verbindet.
Unsere Forschung zeigt zum Teil verblüffende Resultate. Nehmen Sie den bislang völlig unbekannten Fall »Onkel Toms Hütte«, das bekannte Buch von Harriet Beecher-Stowe: Nach einer Anzeige aus Perugia wurde die römische Zentrale tätig. Nun prallten in ein und derselben Kongregation ganz unterschiedliche Meinungen, ganz unterschiedliche Vorstellungen aufeinander. Einer der Gutachter beurteilte das Buch als ein furchtbares Machwerk, das zur Revolution und zum Umsturz aufrufe. Ein anderer Gutachter hielt dagegen, dass »Onkel Toms Hütte«, obwohl von einer Protestantin geschrieben, eigentlich katholische Prinzipien vertrete. Es kam in diesem Fall am Ende zu einem Freispruch. Das Gleichgeschaltete, das der Betrachter von außen sieht, zeigt sich beim genaueren Blick auf die Täter nicht.

Woher rührte die Angst der katholischen Kirche vor den Werken, die sie indizierte?
Ich halte die Frage für falsch gestellt. Ich halte sie deshalb für falsch gestellt, weil Sie auf die katholische Kirche blicken, aber nicht darauf, dass zu jener Zeit, als die katholische Kirche den Index einrichtete, Zensur Alltag war. Zensur als obrigkeitliche Aufgabe wurde auch durch den Staat ausgeübt. Die evangelische Kirche praktizierte eine nicht weniger rigide Zensur als die katholische, nur eben auf landeskirchlicher Basis. Die Universitäten übten Zensur aus, jede Fakultät, das war ganz selbstverständlich.
Die katholische Kirche tat also nichts Ungewöhnliches. Das änderte sich allerdings im Zusammenhang mit der Aufklärung und der Thematisierung dessen, was man die Menschenrechte nennt.

Gut, dann nochmal allgemein gefragt: Ist Zensur nicht per se ein Zeichen von Angst?
Gegenfrage: Denken Sie doch einfach mal an all das, was einem im Internet so unterkommen kann. Wie reagieren Sie da auf die Frage der Notwendigkeit von Zensur? Hat derjenige, der hier nach Zensur ruft, einfach nur Angst - oder sorgt er sich etwa um Kinder und Jugendliche? Vor zehn Jahren hätte jeder mit Artikel 5 des Grundgesetz gesagt: Eine Zensur findet nicht statt, Zensur ist etwas Schreckliches. Wenn ich aber höre, dass ausgerechnet von liberaler Seite ins Feld geführt wird, dass wir in dieser Hinsicht neu überlegen, dass beispielsweise auch noch Aspekte wie Jugendschutz Gültigkeit behalten müssen, dann frage ich mich: Ist Zensur per se nur ein Zeichen von Schwäche und Angst? Vielleicht ist sie ebenso ein Zeichen der Fürsorge. Wie kann der Einzelne oder die Gemeinschaft vor Gefahren geschützt werden.

Im Rahmen der vatikanischen Zensurverfahren ging es allerdings um eine Auseinandersetzung mit anderen Gedanken und nicht etwa um Aspekte des Jugendschutzes nach unserem heutigen Verständnis.
Natürlich. Das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Pauls II. aus dem Jahre 2000 sagt ja relativ klar, die katholische Kirche habe im Verlaufe der Geschichte zum Schutz der Wahrheit Methoden der Intoleranz angewandt. Dass unter diese Methoden der Intoleranz der Index gehört, auch wenn Johannes Paul II. ihn in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich genannt hat, ist, glaube ich, unbestritten. Damit ist auch gesagt: Die Zensur durch den Index war eine Methode, die jedenfalls aus der heutigen Wahrnehmung nicht angemessen war.

Die Indizierung Heinrich Heines durch den Vatikan ist bekannt. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang allerdings die Begründung, mit der der Dichter auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde: Demokratismus, Liberalismus, Ungehorsam und Aufstachelung zur Revolution - alles keine theologischen Vorwürfe.
Doch, in gewisser Hinsicht schon. Drei Werke von Heine wurden indiziert. Für jedes wurde in Rom ein Gutachter bestellt. Für diese Gutachter galt: Wer eine falsche Theologie und eine falsche Philosophie vertritt, der vertritt auch eine falsche Politik und hat eine falsche Vorstellung von der Gesellschaft. Natürlich führen die Heine-Gutachter seine blasphemischen, kirchen-, papst- und religionskritischen Äußerungen an. Solche zu finden, war relativ leicht. Der eigentliche Knackpunkt allerdings war für die Gutachter, dass Heine vor allem zum Umsturz und zum Demokratismus aufrief.
Hierin liegt der Schlüssel, die Indizierungsverfahren gegen Heine richtig zu verstehen. Mein Mitarbeiter-Team und ich dachten zunächst, der Anlass für die Anzeige Heines in Rom sei in Frankreich zu suchen - denn bei der Veröffentlichung seiner Indizierung wurden französische Buchausgaben angeführt. Heine lebte im Exil, hatte auch den Erzbischof von Paris so richtig durch den Kakao gezogen. Dementsprechend gingen wir von einem Revanche-Foul des Erzbischofs aus. Diese Spur führte allerdings in die Irre.
Dann haben wir uns die Sache noch einmal ganz genau angesehen, die Begründungen im Einzelnen - und da ging uns auf, was wir eigentlich auch sofort hätten sehen können: Das Revolutionsmotiv wurde in den Indizierungsgutachten dermaßen vehement gehandelt - das roch geradezu nach dem Staatskanzler Metternich und den Karlsbader Beschlüssen. Unsere neuen Spuren führten schließlich zur Literatengruppe Junges Deutschland und derem Verbot. Wir haben in Wien gesucht und sind dort sofort fündig geworden:
Metternich hatte Vorkehrungen getroffen, damit Papst Gregor XVI., der - wie auch er - die Revolution fürchtete wie die Pest, mitbekam, was in Deutschland lief. Der Staatskanzler kontaktierte den päpstlichen Nuntius in Wien, der den Fall Heine und Junges Deutschland nach Rom weiterleitete. Darüber hinaus schickte Metternich einen Gesandten nach Rom, um entsprechende Akten zu übergeben. Akten, die man natürlich auch im Vatikanischen Geheimarchiv finden kann, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Wenn man sich die Liste auf dem vatikanischen Index gelandeter Bücher anschaut, fällt auf: Charles Darwin und Karl Marx fehlen. Nur Fehlanzeige?
Fehlanzeige wäre zu kurz gegriffen. Tatsächlich: Es gibt keinen Fall Charles Darwin und auch keinen Fall Karl Marx oder »Das Kapital«, zumindest nicht so wie im Fall Heine oder »Onkel Toms Hütte«. Fälle zum Thema Darwinismus aber gibt es zuhauf. Und es gibt sehr wohl die Komplexe Marxismus und Kommunismus.

Gab es auch einen Fall Adolf Hitler? Oder »Mein Kampf«?
Hitler war nicht indiziert. Es findet sich hierzu kein Eintrag im Index. Dahingegen kam 1934 der NS-Ideologe Alfred Rosenberg, sein »Mythus des 20. Jahrhunderts« wie auch seine Schrift »An die Dunkelmänner unserer Zeit«, auf den Index.
Auf Grund einer Ausnahmegenehmigung, die der Papst 2003 erlassen hat, kann man einige ausgewählte Akten des Archivs der Glaubenskongregation aus den Jahren 1922 bis 1939 einsehen. Und da findet man einen Vorgang, der sich der Frage widmet, ob in einem feierlichen Akt Nationalsozialismus, Rassismus, Faschismus und Kommunismus durch das kirchliche Lehramt verurteilt werden sollen oder nicht. Auf dem Deckel dieses Vorganges steht »Germania«, also Deutschland.
Die Gutachter, die hierzu eingesetzt wurden, machten zunächst nichts anderes, als ein einziges Buch zu analysieren - nämlich Hitlers »Mein Kampf«. Sie entfachten eine ausgiebige Diskussion aller einzelnen belasteten Textstellen, mit einer ausführlichen Begründung, warum diese der Lehre der katholischen Kirche widersprachen. Die Diskussion lief über drei Jahre. Aber: Am Schluss kam es nicht zu einer Verurteilung des Werkes und damit seiner Gedanken.

Warum nicht?
Diese Frage kann man noch nicht beantworten. Und zwar deshalb nicht, weil wir bislang noch nicht die Überlieferung des päpstlichen Staatssekretariates und damit der politischen Ebene vorliegen haben. Wir wissen nicht, was der Papst und der Staatssekretär und auch andere Gremien in dieser Frage eigentlich gedacht haben. Die Beschlussprotokolle der Kongregation hierzu sind sehr allgemein.
Nun kann man natürlich Vermutungen anstellen: Rosenberg hat man verurteilt - Hitler nicht. Man hat Rosenberg ein Jahr nach Abschluss des Reichskonkordates auf den Index gesetzt. Das zeigt also, mit der Nazi-Ideologie hatte man in Rom absolut nichts am Hut.

»Mein Kampf« ist NS-Ideologie. Also, warum Hitler nicht?
Vermutlich, weil Hitler nach katholischer Staatsauffassung als legale staatliche Obrigkeit nicht verurteilt werden konnte. Siehe Römerbrief 13, 1-2: Jede Obrigkeit kommt von Gott. Nach dieser katholischen Staatsauffassung, so vermute ich, hat man wahrscheinlich in der politischen Abteilung der Kurie - im Staatssekretariat - gehandelt und sich gesagt: Wir können nicht ein Staatsoberhaupt verurteilen. Hiermit ließe sich auch erklären, warum seitens des Vatikans durchaus eine Verurteilung des italienischen Faschismus und einiger Vertrauensleute Mussolinis erfolgte - aber eben keine Verurteilung Mussolinis selbst.
Als sich der italienische Faschismus stärker an den deutschen Nationalsozialismus annäherte und Aspekte von dessen Rassenideologie übernahm, kam es 1936/37 zu einer neuen Front der katholischen Kirche gegen den Faschismus in Italien. Während man vorher relativ gut mit ihm zurande gekommen war, sich durch Verträge 1929 arrangierte, die Rom-Frage klärte, den Bereich der Politik dem Staat überließ und die Kirche völligen Freiraum zugesprochen bekam, sich in religiöser Hinsicht zu verwirklichen, waren nun durch die Übernahme der NS-Rassenlehre in Italien kirchliche Positionen mit denen des Staates nicht mehr deckungsgleich.

Eine offizielle Antwort des Vatikans auf den Nationalsozialismus gab es ja durchaus: die Enzyklika »Mit brennender Sorge«
Eine Frage, die in diesem Zusammenhang sicher noch geklärt werden muss, ist: Wie hängt diese Enzyklika mit dem eben umrissenen Fall Hitler zusammen? Ein spannendes Thema. Die am 18. September erfolgte Öffnung aller Akten, die im Vatikanischen Geheimarchiv zum Pontifikat Pius XI. von 1922 bis 1939 lagern, und zwar in ihrer kompletten Form, wird mich hoffentlich in den Stand versetzen, die Frage nach dem Fall Hitler definitiv zu beantworten.ND: Ziel von Zensur ist, entweder eine unerwünschte Meinung in eine genehme Form zu bringen oder, wenn dies nicht funktioniert, die unerwünschte Meinung zu unterdrücken und nach Möglichkeit aus der Welt zu schaffen. Wen hatte die Zensur des Vatikan mit dem Index der verbotenen Bücher im Visier?
Hubert Wolf: Im Grunde genommen könnte man sagen, die Geburt des Index erfolgte aus dem Geist der Gegenreformation. Luther hat erstmals die medienpolitischen Möglichkeiten des Buchdruckes genutzt. Damit wurde das Wissensmonopol der katholischen Kirche, das zugleich ein Wahrheitsmonopol war, entscheidend gefährdet. Bis zu jener Zeit lagerten die wichtigen Wissensbestände in Klosterbibliotheken. Dort wurden sie in den Skriptorien handschriftlich vervielfältigt; und es dauerte oft ein ganzes Jahr, ein Werk abzuschreiben. In dem Moment, in dem der Buchdruck für theologische Streitschriften genutzt wurde, musste sich der Blick der römischen Zensur gerade hierauf richten. Sie setzte sich aber erst relativ spät durch.
Einerseits hatte man 1515, also vor der Reformation, in Rom den Buchdruck noch als Gottesgeschenk bezeichnet, weil damit bildungshungrige Männer aller Stände die Möglichkeit hätten, schnell und preiswert an Wissen heranzukommen. Bis dato war das nicht möglich gewesen; nur Menschen mit viel Geld hatten sich Bücher leisten können. Andererseits bezeichnete man den Buchdruck als Teufelswerk, denn das Medium Buch ließ sich natürlich auch missbrauchen, um »falsche« Inhalte zu transportieren. 1542 kam es dann zur Gründung der Heiligen Römischen und Universalen Inquisition, 1559 erschien der erste Index verbotener Bücher. Von da an begann der Vatikan, das Buch als Medium neuzeitlicher Wissenskultur zu kontrollieren.
Es ging von Anfang an um eine Totalkontrolle des Buchmarktes, weil auf der Basis des theologischen Wahrheitsverständnisses Roms keine andere abweichende literarische oder wissenschaftliche oder auch belletristische Wahrheit denkbar war.

Ist die Institution, die hinter einem solchen totalen Zugriff steht, eine totalitäre Institution?
Ein Anspruch des totalen Zugriffes bestand sehr wohl. Dieser Anspruch aber ist gescheitert. Das haben übrigens kluge Leute in den entsprechenden Kongregationen des Vatikans sofort gesehen. Bereits 1571, im ersten Jahr der eigens für die Buchzensur eingerichteten Indexkongregation, schrieb einer der dort Tätigen an den Rand eines Papiers, salopp übersetzt: »Was soll's? Drei Bücher habe ich abgearbeitet. Neun neue liegen hier vor. Und wenn ich die weg habe, werden es 27 sein.« Hier kommt sehr schön das Hydra-Motiv zum Tragen.

Das neunköpfige Seeungeheuer in der griechischen Mythologie, deren abgeschlagene Köpfe immer wieder nachwuchsen ...
Ja, aber was heißt nun totalitär? Totalitär ist vor allem ein politischer Begriff des 20. Jahrhunderts, mit dem man der Kirche in all ihren historischen Ausformungen in keiner Weise gerecht wird. Es ist außerdem erstaunlich, dass die Inquisition nicht gleichgeschaltet und vorhersagbar agierte, nicht nach einem starren Mechanismus. Nicht jedes Buch, das angezeigt wurde, wurde auch automatisch verurteilt. Das ist nur eine Fama, die man mit der Inquisition und dem Index verbindet.
Unsere Forschung zeigt zum Teil verblüffende Resultate. Nehmen Sie den bislang völlig unbekannten Fall »Onkel Toms Hütte«, das bekannte Buch von Harriet Beecher-Stowe: Nach einer Anzeige aus Perugia wurde die römische Zentrale tätig. Nun prallten in ein und derselben Kongregation ganz unterschiedliche Meinungen, ganz unterschiedliche Vorstellungen aufeinander. Einer der Gutachter beurteilte das Buch als ein furchtbares Machwerk, das zur Revolution und zum Umsturz aufrufe. Ein anderer Gutachter hielt dagegen, dass »Onkel Toms Hütte«, obwohl von einer Protestantin geschrieben, eigentlich katholische Prinzipien vertrete. Es kam in diesem Fall am Ende zu einem Freispruch. Das Gleichgeschaltete, das der Betrachter von außen sieht, zeigt sich beim genaueren Blick auf die Täter nicht.

Woher rührte die Angst der katholischen Kirche vor den Werken, die sie indizierte?
Ich halte die Frage für falsch gestellt. Ich halte sie deshalb für falsch gestellt, weil Sie auf die katholische Kirche blicken, aber nicht darauf, dass zu jener Zeit, als die katholische Kirche den Index einrichtete, Zensur Alltag war. Zensur als obrigkeitliche Aufgabe wurde auch durch den Staat ausgeübt. Die evangelische Kirche praktizierte eine nicht weniger rigide Zensur als die katholische, nur eben auf landeskirchlicher Basis. Die Universitäten übten Zensur aus, jede Fakultät, das war ganz selbstverständlich.
Die katholische Kirche tat also nichts Ungewöhnliches. Das änderte sich allerdings im Zusammenhang mit der Aufklärung und der Thematisierung dessen, was man die Menschenrechte nennt.

Gut, dann nochmal allgemein gefragt: Ist Zensur nicht per se ein Zeichen von Angst?
Gegenfrage: Denken Sie doch einfach mal an all das, was einem im Internet so unterkommen kann. Wie reagieren Sie da auf die Frage der Notwendigkeit von Zensur? Hat derjenige, der hier nach Zensur ruft, einfach nur Angst - oder sorgt er sich etwa um Kinder und Jugendliche? Vor zehn Jahren hätte jeder mit Artikel 5 des Grundgesetz gesagt: Eine Zensur findet nicht statt, Zensur ist etwas Schreckliches. Wenn ich aber höre, dass ausgerechnet von liberaler Seite ins Feld geführt wird, dass wir in dieser Hinsicht neu überlegen, dass beispielsweise auch noch Aspekte wie Jugendschutz Gültigkeit behalten müssen, dann frage ich mich: Ist Zensur per se nur ein Zeichen von Schwäche und Angst? Vielleicht ist sie ebenso ein Zeichen der Fürsorge. Wie kann der Einzelne oder die Gemeinschaft vor Gefahren geschützt werden.

Im Rahmen der vatikanischen Zensurverfahren ging es allerdings um eine Auseinandersetzung mit anderen Gedanken und nicht etwa um Aspekte des Jugendschutzes nach unserem heutigen Verständnis.
Natürlich. Das Schuldbekenntnis von Papst Johannes Pauls II. aus dem Jahre 2000 sagt ja relativ klar, die katholische Kirche habe im Verlaufe der Geschichte zum Schutz der Wahrheit Methoden der Intoleranz angewandt. Dass unter diese Methoden der Intoleranz der Index gehört, auch wenn Johannes Paul II. ihn in diesem Zusammenhang nicht ausdrücklich genannt hat, ist, glaube ich, unbestritten. Damit ist auch gesagt: Die Zensur durch den Index war eine Methode, die jedenfalls aus der heutigen Wahrnehmung nicht angemessen war.

Die Indizierung Heinrich Heines durch den Vatikan ist bekannt. Interessant erscheint in diesem Zusammenhang allerdings die Begründung, mit der der Dichter auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt wurde: Demokratismus, Liberalismus, Ungehorsam und Aufstachelung zur Revolution - alles keine theologischen Vorwürfe.
Doch, in gewisser Hinsicht schon. Drei Werke von Heine wurden indiziert. Für jedes wurde in Rom ein Gutachter bestellt. Für diese Gutachter galt: Wer eine falsche Theologie und eine falsche Philosophie vertritt, der vertritt auch eine falsche Politik und hat eine falsche Vorstellung von der Gesellschaft. Natürlich führen die Heine-Gutachter seine blasphemischen, kirchen-, papst- und religionskritischen Äußerungen an. Solche zu finden, war relativ leicht. Der eigentliche Knackpunkt allerdings war für die Gutachter, dass Heine vor allem zum Umsturz und zum Demokratismus aufrief.
Hierin liegt der Schlüssel, die Indizierungsverfahren gegen Heine richtig zu verstehen. Mein Mitarbeiter-Team und ich dachten zunächst, der Anlass für die Anzeige Heines in Rom sei in Frankreich zu suchen - denn bei der Veröffentlichung seiner Indizierung wurden französische Buchausgaben angeführt. Heine lebte im Exil, hatte auch den Erzbischof von Paris so richtig durch den Kakao gezogen. Dementsprechend gingen wir von einem Revanche-Foul des Erzbischofs aus. Diese Spur führte allerdings in die Irre.
Dann haben wir uns die Sache noch einmal ganz genau angesehen, die Begründungen im Einzelnen - und da ging uns auf, was wir eigentlich auch sofort hätten sehen können: Das Revolutionsmotiv wurde in den Indizierungsgutachten dermaßen vehement gehandelt - das roch geradezu nach dem Staatskanzler Metternich und den Karlsbader Beschlüssen. Unsere neuen Spuren führten schließlich zur Literatengruppe Junges Deutschland und derem Verbot. Wir haben in Wien gesucht und sind dort sofort fündig geworden:
Metternich hatte Vorkehrungen getroffen, damit Papst Gregor XVI., der - wie auch er - die Revolution fürchtete wie die Pest, mitbekam, was in Deutschland lief. Der Staatskanzler kontaktierte den päpstlichen Nuntius in Wien, der den Fall Heine und Junges Deutschland nach Rom weiterleitete. Darüber hinaus schickte Metternich einen Gesandten nach Rom, um entsprechende Akten zu übergeben. Akten, die man natürlich auch im Vatikanischen Geheimarchiv finden kann, wenn man weiß, wo man suchen muss.

Wenn man sich die Liste auf dem vatikanischen Index gelandeter Bücher anschaut, fällt auf: Charles Darwin und Karl Marx fehlen. Nur Fehlanzeige?
Fehlanzeige wäre zu kurz gegriffen. Tatsächlich: Es gibt keinen Fall Charles Darwin und auch keinen Fall Karl Marx oder »Das Kapital«, zumindest nicht so wie im Fall Heine oder »Onkel Toms Hütte«. Fälle zum Thema Darwinismus aber gibt es zuhauf. Und es gibt sehr wohl die Komplexe Marxismus und Kommunismus.

Gab es auch einen Fall Adolf Hitler? Oder »Mein Kampf«?
Hitler war nicht indiziert. Es findet sich hierzu kein Eintrag im Index. Dahingegen kam 1934 der NS-Ideologe Alfred Rosenberg, sein »Mythus des 20. Jahrhunderts« wie auch seine Schrift »An die Dunkelmänner unserer Zeit«, auf den Index.
Auf Grund einer Ausnahmegenehmigung, die der Papst 2003 erlassen hat, kann man einige ausgewählte Akten des Archivs der Glaubenskongregation aus den Jahren 1922 bis 1939 einsehen. Und da findet man einen Vorgang, der sich der Frage widmet, ob in einem feierlichen Akt Nationalsozialismus, Rassismus, Faschismus und Kommunismus durch das kirchliche Lehramt verurteilt werden sollen oder nicht. Auf dem Deckel dieses Vorganges steht »Germania«, also Deutschland.
Die Gutachter, die hierzu eingesetzt wurden, machten zunächst nichts anderes, als ein einziges Buch zu analysieren - nämlich Hitlers »Mein Kampf«. Sie entfachten eine ausgiebige Diskussion aller einzelnen belasteten Textstellen, mit einer ausführlichen Begründung, warum diese der Lehre der katholischen Kirche widersprachen. Die Diskussion lief über drei Jahre. Aber: Am Schluss kam es nicht zu einer Verurteilung des Werkes und damit seiner Gedanken.

Warum nicht?
Diese Frage kann man noch nicht beantworten. Und zwar deshalb nicht, weil wir bislang noch nicht die Überlieferung des päpstlichen Staatssekretariates und damit der politischen Ebene vorliegen haben. Wir wissen nicht, was der Papst und der Staatssekretär und auch andere Gremien in dieser Frage eigentlich gedacht haben. Die Beschlussprotokolle der Kongregation hierzu sind sehr allgemein.
Nun kann man natürlich Vermutungen anstellen: Rosenberg hat man verurteilt - Hitler nicht. Man hat Rosenberg ein Jahr nach Abschluss des Reichskonkordates auf den Index gesetzt. Das zeigt also, mit der Nazi-Ideologie hatte man in Rom absolut nichts am Hut.

»Mein Kampf« ist NS-Ideologie. Also, warum Hitler nicht?
Vermutlich, weil Hitler nach katholischer Staatsauffassung als legale staatliche Obrigkeit nicht verurteilt werden konnte. Siehe Römerbrief 13, 1-2: Jede Obrigkeit kommt von Gott. Nach dieser katholischen Staatsauffassung, so vermute ich, hat man wahrscheinlich in der politischen Abteilung der Kurie - im Staatssekretariat - gehandelt und sich gesagt: Wir können nicht ein Staatsoberhaupt verurteilen. Hiermit ließe sich auch erklären, warum seitens des Vatikans durchaus eine Verurteilung des italienischen Faschismus und einiger Vertrauensleute Mussolinis erfolgte - aber eben keine Verurteilung Mussolinis selbst.
Als sich der italienische Faschismus stärker an den deutschen Nationalsozialismus annäherte und Aspekte von dessen Rassenideologie übernahm, kam es 1936/37 zu einer neuen Front der katholischen Kirche gegen den Faschismus in Italien. Während man vorher relativ gut mit ihm zurande gekommen war, sich durch Verträge 1929 arrangierte, die Rom-Frage klärte, den Bereich der Politik dem Staat überließ und die Kirche völligen Freiraum zugesprochen bekam, sich in religiöser Hinsicht zu verwirklichen, waren nun durch die Übernahme der NS-Rassenlehre in Italien kirchliche Positionen mit denen des Staates nicht mehr deckungsgleich.

Eine offizielle Antwort des Vatikans auf den Nationalsozialismus gab es ja durchaus: die Enzyklika »Mit brennender Sorge«
Eine Frage, die in diesem Zusammenhang sicher noch geklärt werden muss, ist: Wie hängt diese Enzyklika mit dem eben umrissenen Fall Hitler zusammen? Ein spannendes Thema. Die am 18. September erfolgte Öffnung aller Akten, die im Vatikanischen Geheimarchiv zum Pontifikat Pius XI. von 1922 bis 1939 lagern, und zwar in ihrer kompletten Form, wird mich hoffentlich in den Stand versetzen, die Frage nach dem Fall Hitler definitiv zu beantworten.

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